Rezensionen

Ophélie Chavaroche/Jean-Michel Billioud: Atlas der utopischen Welten. 82 Visionen der Menschheit. Kosmos Verlag

Utopien – nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wollte man sie am liebsten in die Rumpelkammer der Geschichte verbannen. Heute sind sie aktueller denn je - das ist gut so! Die Welt von morgen ist herausfordernd und verlangt nach Lösungen. Der reich bebilderte „Atlas der utopischen Welten“ nimmt die Leserinnen und Leser mit auf eine bunte Reise durch die Sphären der Utopie, darunter auch unsere Autorin Ulrike Schuster.

Cover © Kosmos Verlag
Cover © Kosmos Verlag

Obwohl Utopien oft abgetan wurden als Gedankenspiel oder Träumerei, haben sie den menschlichen Geist immer schon beflügelt. Eine Reihe von Errungenschaften, die wir heute fast als selbstverständlich betrachten: das Streben nach Gleichheit und die Menschenrechte, Freiheit und Demokratie, geregelte Arbeitszeiten, Sozialversicherung, der Zugang zu medizinischer Versorgung für alle und noch viel mehr sind Forderungen, die einst in Utopia das Licht der Welt erblickten und sich ihren Weg erkämpften. Als Genre blickt die Utopie auf eine lange Geschichte zurück. Die berühmte Schrift von Thomas Morus (1478-1535) gab ihr vor rund 600 Jahren den Namen, doch die Wurzeln liegen bereits in der klassischen Antike, bei Aristoteles und Platon. Derselben Zeit entspringt allerdings auch das Zerrbild, die negative oder schwarze Utopie, in der sich der Traum zum Albtraum verkehrt. Am Anfang steht das untergegangene Atlantis, eine Fabel als Mahnung vor der menschlichen Hybris.

Zwischen diesen Spannungspolen also erstreckt sich der unendliche Kosmos der utopischen Welten, deren Kartographie die Literaturwissenschaftlerin Ophélie Chavaroche und der Historiker Jean-Michel Billioud in der vorliegenden Publikation unternehmen. Die Auswahl umfasst 82 Beispiele, die anhand von prachtvollen Illustrationen, Plänen und Fotografien präsentiert werden. Der opulent gestaltete Atlas ist nicht die erste Kompilation, die sich mit der Vermessung der Landkarten Utopias beschäftigt, doch ein beträchtlicher Teil der diesbezüglichen Fachliteratur ist tatsächlich schon älteren Datums. Zudem lag der Fokus früherer Utopieforschung zumeist auf der europäisch-abendländischen Perspektive und befasste sich vorwiegend mit städtebaulichen Idealen der frühen Neuzeit – vom „Männerspiel ‚Idealstadt‘“ sprach einmal der Kunsthistoriker Wolfgang Braunfels (Abendländische Stadtbaukunst, Köln 1977). Eine Aktualisierung aus dem Blickwinkel der Gegenwart ist absolut wünschenswert und notwendig, dieser Ansatz stellt eine der größten Stärken der Publikation dar. Ohne großen theoretischen Ballast oder lange Umschweife springen die Verfasser, nach einem verdichteten Vorwort, zu den Beispielen über. Den historischen Kontext streift man kurz und widmet sich desto ausgiebiger den zeitgenössischen Themen. Man will den komplexen Erfordernissen der globalisierten Welt gerecht werden: Städte und architektonische Konzepte kommen ebenso zur Sprache wie technische Errungenschaften, ökologische Bewegungen und neue Gesellschaftsmodelle.

Der belgische Architekt und Zeichner Luc Schuiten (*1944 ) etwa entwickelte ein Konzept der „vegetabilen Stadt“, wo Bäume und menschliche Behausungen eine symbiotische Verbindung eingehen. Seine Wohnungen in den Baumkronen sind im Inneren der organischen Raumstruktur angepasst und nach außen hin durch eine biotextile Membran von der Witterung abgeschirmt. In Kenia kämpfte die Biologin und Ökofeministin Wangari Muta Maathai (1940-2011) seit den späten 1970-er Jahren gegen Abholzung und Bodenerosion. Die von ihr gegründete Organisation Green Belt Movement betreibt nach wie vor erfolgreiche Projekte zur Wiederaufforstung auf dem gesamten schwarzen Kontinent. Für ihr Lebenswerk erhielt die „Mutter der Bäume“, als erste Frau Afrikas, im Jahr 2004 den Friedensnobelpreis. Auf der Insel Java wiederum entwickelte der Medizinstudent Gamal Albinsaid (*1989) eine Idee zur Lösung des überbordenden Müllproblems in den Slums, die zugleich der ärmsten Bevölkerung zugutekommt: Für ihre Beteiligung am Sammeln der Abfälle erhalten sie Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Gleichzeitig ließ eine zweite Initiative die tristen Behausungen der indonesischen Slums in fröhlich bunten Farben neu erstrahlen. Weltweit wachsen die Bewegungen, die sich dem kreativen Recycling, insbesondere von Plastikmüll, verschreiben. Seit 1968 entwickelt sich in der Wüste von Arizona die Idealstadt Arcosanti. Die Gründungsprinzipien des italienischen Architekten Paolo Soleri (1919-2013) zielen auf einen menschengerechten Lebensraum ab, wobei sämtliche Wege zu Fuß erreichbar sind. Die Architektur steht im Einklang mit der Ökologie, nachhaltige Energieerzeugung und sparsamer Verbrauch sind inbegriffen.

Auch die ehemalige britische Kolonie Singapur hat sich in den vergangenen Jahrzehnten konsequent zu einer hypermodernen Gartenstadt entwickelt. Zwischen Wolkenkratzern erstrecken sich heute Parks und künstlich angelegte Grünoasen. Zum Markenzeichen der Metropole wurden die sogenannten Supertrees, die auch das Covermotiv des Buches stellen. Dabei handelt es sich um futuristisch anmutende Gebilde aus Beton und Stahl, an deren Außenseite üppige Vegetation wuchert. Mittels eingebauter Solarzellen produzieren die Super-Bäume ihren eigenen Strom und leuchten mit Einbruch der Nacht. Die atemberaubende Architektur Singapurs steht indes in einem denkbar scharfen Kontrast zu den politischen Verhältnissen in dem kleinen Stadtstaat, der regelmäßig durch Repression, Unterdrückung der Pressefreiheit und seinem drakonischen Strafvollzug Schlagzeilen macht.

An solchen Beispielen offenbaren sich die Schwachstellen der Publikation: Nicht alles erschließt sich restlos im utopischen Atlas in puncto Vorbildcharakter. Der indische Bundesstaat Andhra Pradesh, im Südosten des Landes beispielsweise beabsichtigt den Bau einer neuen Hauptstadt. Intelligent und nachhaltig soll die Metropole nach dem Willen ihrer Planer werden, wobei abgesehen von der feierlichen Grundsteinlegung im Jahr 2015 bislang nicht viel geschah.
Grundsätzlich drängt sich die Frage auf: sind großdimensionierte Städtegründungen, wie sie derzeit in Fernost boomen, tatsächlich das richtige Signal in Zeiten von fortschreitendem Bodenfraß? Im Schlosspark von Le Champ de Bataille in der Normandie errichtete der französische Architekt und Gartenplaner Jacques Garcia (*1947) eine märchenhafte Palastanlage im indischen Stil, wofür er über 20 Jahre lang altindische Bauelemente aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert zusammentrug. Das Ergebnis ist wunderschön anzusehen, der freizügige Umgang mit kulturell bedeutsamen Spolien frappiert dennoch.

Es ist nicht so, dass die Autoren heikle oder strittige Themen meiden, doch bei den persönlichen Einschätzungen der einzelnen Beispiele bleibt man im Vagen. Generell sind die begleitenden Texte recht kurz gehalten, man wendet sich an ein Publikum, das den Einstieg ins Thema sucht. Doch es bleibt eben wenig Spielraum zur gedanklichen Vertiefung. Alles in allem überwiegt der Eindruck eines bunten Sammelsuriums, in dem für vieles Platz ist: von der guten alten Freistadt Christiania in Kopenhagen (1971) reicht der Bogen bis zum künftigen Leben auf dem Mars, von der burgundischen Burg Guédelon, wo bis 2023 das Mittelalter neu erstehen soll, bis zum indischen Taj Mahal. Als Botschafter der Utopien firmieren unter anderem Leonardo da Vinci (1452-1519) und Ernesto „Che“ Guevara (1928-1967), Ludwik Zamenhof (1859-1915), der Erfinder des Esperanto, die US-Folk Sängerin Joan Baez (*1947) und Whistleblower Edward Snowden (*1983). Der Begriff der Utopie ist bewusst weit gefasst – dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Etwas mehr an inhaltlicher Stringenz hätte der Publikation jedoch gut getan.
Andererseits entdeckt man, gerade wegen der Vielfalt an Beispielen, viel Neues. Dank der ansprechenden Aufbereitung gestaltet sich das Schmökern kurzweilig und unterhaltsam. Die angestoßene Reise in die Welt der Utopien weckt die Neugierde– und nichts sollte der Erschaffung respektive der Erkundung neuer Utopias im Wege stehen!


Titel: Atlas der utopischen Welten. 82 Visionen der Menschheit
Autor:innen: Ophélie Chavaroche/Jean-Michel Billioud
Verlag: Kosmos Verlag, Stuttgart 2021
256 S.
150 Farb- und 15 SW-Fotos, 84 Farb- und 22 SW-Zeichnungen
2 Farbtafeln

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