Ausstellungsbesprechungen

Oskar Schlemmer - Visionen einer neuen Welt, Staatsgalerie Stuttgart, bis 19. April 2015 (verlängert)

Seine große Landesausstellung im Winter 2014/15 widmet das Land Baden-Württemberg einem der bedeutendsten Künstler der Klassischen Moderne: Oskar Schlemmer. Malerei, Plastik und Design prägte der gebürtige Stuttgarter entscheidend und zahlreiche Werke zeugen von seinem Schaffen. Ob die Schau gelungen ist, verrät Ihnen Rainer K. Wick.

Nach einem durch Erbstreitigkeiten und Urheberrechtsprobleme verursachten Dornröschenschlaf von mehreren Jahrzehnten, in denen Ausstellungen und Publikationen rar waren und sogar eine für 2008 geplante große Auktion bei Lempertz in Köln scheiterte, erlebt derzeit einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts in der Stuttgarter Staatsgalerie gleichsam eine zweite Geburt: Oskar Schlemmer. Kunstgeschichtlich verbindet sich das Werk des 1888 in Stuttgart geborenen Malers, Plastikers, Bühnenkünstlers und Kunstprofessors untrennbar mit dem 1919 in Weimar von Walter Gropius gegründeten Bauhaus. Hier war er der Einzige, der dezidiert an der bildnerischen Thematisierung des Menschen festhielt, im Unterschied etwas zu seinen Kollegen Kandinsky und Moholy-Nagy, die sich ganz auf die »gegenstandslose Welt« (Malewitsch) konzentrierten.

Schon 1923, in seiner Zeit am Weimarer Bauhaus, hatte er geschrieben: Es »bleibt ein großes Thema, uralt, ewig neu. Gegenstand der Bilder aller Zeiten: der Mensch, die menschliche Figur.« Die aktuelle, überaus sehenswerte Ausstellung dokumentiert nun die enorme Vielfalt seines künstlerischen Werkes, das sich trotz aller Wandlungen als beeindruckende Einheit präsentiert. In einer Zeit rasch aufeinanderfolgender und zum Teil miteinander konkurrierender Kunstrichtungen ist es Schlemmer gelungen, ein künstlerisches Œuvre von unverwechselbarer Individualität zu schaffen. Sein Ziel galt der Schaffung eines »allgemeingültigen Typus der Gestalt«, wie es die Schlemmer-Expertin Karin von Maur treffend formuliert hat, der – so paradox dies klingen mag – »zeitgemäß«, also modern, und zugleich zeitlos sein sollte. Indem Schlemmer von der Darstellung physiognomischer, psychologischer und sozial-kultureller Differenzierungen absah, hat er als Maler, Plastiker, Zeichner, Grafiker und Bühnengestalter sein Leben lang daran gearbeitet, den Menschen in seiner essentiellen Grundform, in seiner Idealität, zu erfassen. Dazu diente ihm nach eigener Aussage »ein zunehmendes Extrahieren von Formen und Farben, die immer mehr von der Kraft der objektiven Natur sich entfernen, um die Kraft, die den Darstellungsmitteln innewohnt, herauszustellen«, ohne sich dabei einem inhaltsleeren Formalismus auszuliefern.

Die Stuttgarter Ausstellung zeichnet in großer Bandbreite mit exemplarischen Werken die gesamte künstlerische Entwicklung des Künstlers nach – beginnend mit frühen Arbeiten Schlemmers, etwa Landschaften, die zunächst von seinem Lehrer Adolf Hölzel beeinflusst sind, später dann von Cézanne und dem Kubismus. Seine Figuren und Köpfe aus den Jahren 1913/14 zeigen bereits eine auffällige Tendenz zur Abstraktion und Typisierung, und in den Kriegsjahren gelangen ihm erste prototypische Formulierungen des Themas Mensch. In seinem beharrlichen Streben nach »Formvollendung und Ideentiefe« galt ihm der Mensch als »höchster Gegenstand«. »Plan mit Figuren« von 1919 zeigt menschliche Figuren in formelhafter Reduzierung – erwähnt sei die typische Violinkontur – und eine strenge, gleichsam tektonische Flächenbindung. Das heißt, die Figuren erscheinen in ein System von Horizontalen und Vertikalen eingespannt, das ihnen auf der Bildfläche Halt und Festigkeit gibt. Ähnliches gilt für die Komposition »Geteilte Jünglingsfigur« von 1921, die kurz nach der Berufung des Künstlers an das Staatliche Bauhaus in Weimar entstand. Sichtbar wird hier jener »anthropozentrische Konstruktivismus« (Karin von Maur), der sich als Synthese aus geometrischer Form und menschlicher Figur darstellt und dessen Programm Schlemmer schon 1915 so formuliert hatte:

»Das Quadrat des Brustkastens / Der Kreis des Bauchs / Zylinder des Halses / Zylinder der Arme und Unterschenkel / Kugel der Gelenke an Ellbogen, Knie, Achsel, Knöchel / Kugel des Kopfes, der Augen / Dreieck der Nase / Die Linie, die Herz und Hirn verbindet / Die Linie, die das Gesicht mit dem Gesehenen verbindet / Das Ornament, das sich zwischen Körper und Außenwelt bildet, sein Verhältnis zu ihr versinnbildlicht.«

Blieb bis in die frühen 1920er Jahre die strenge Flächengeometrie ein Hauptmerkmal der Bilder Schlemmers, so zeichnet sich um 1922/23 nicht im Thematischen, wohl aber im Formalen ein grundsätzlicher Wandel ab. An die Stelle einer flächenbetonten Bildstruktur treten nun Räumlichkeit und Körperhaftigkeit. Die Figuren erscheinen plastisch gerundet und befinden sich in perspektivisch gestalteten Räumen. Hauptwerke, die diese Entwicklung belegen, sind »Die Geste, Tänzerin« von 1922 (in der Ausstellung leider nur durch kleine Skizzen dokumentiert) »Tischgesellschaft« von 1923 (in Stuttgart eine Aquarellstudie) oder »Ruheraum« (1925). Obwohl der Raum in diesen Bildern perspektivische Tiefe hat, folgt diese Perspektive nicht immer den strengen Regeln der euklidischen Geometrie, so dass oft kein stimmiges Raumkontinuum im Sinne des Systemraumes der Renaissance entsteht, sondern ein irrealer, metaphysischer Raum, der an die italienische »pittura metafisica« eines Giorgio de Chirico erinnert.

Enttäuscht, dass sich am frühen Bauhaus die Idee des Gesamtkunstwerks aus Baukunst, Plastik und Malerei und die proklamierte Einheit von Kunst und Leben, von freier Kunst und angewandter Gestaltung offenbar nicht so schnell wie erhofft in die Tat umsetzen ließ, notierte Schlemmer 1922: »Besinnung auf Kunst. [...] Es bleibt das Metaphysische: die Kunst.« Und bezugnehmend auf den Romantiker Philipp Otto Runge, der neben Caspar David Friedrich einer seiner Lieblingskünstler war, prägte er 1925 den Begriff der »metaphysischen Mathematik« und betonte, dass sein eigentliches künstlerisches Interesse in Richtung »der metaphysischen Räume, der metaphysischen Perspektiven, der metaphysischen Figur« gehe.

Schlemmer war nicht nur Schöpfer von Tafelbildern und Wandgestaltungen sowie Plastiker (genannt sei nur seine »Abstrakte Figur« von 1921/23, und erinnert ferner sei an die Tatsache, dass er am Bauhaus in Weimar jahrelang die Werkstatt für Bildhauerei geleitet hat),, sondern auch Tanzgestalter und Bühnenkünstler. Für ihn galten auf der Bühne die gleichen Prinzipien wie in der Malerei und Plastik, denn nach seiner Überzeugung habe die Bühne dem »metaphysischen Bedürfnis des Menschen« zu dienen, «indem sie eine Scheinwelt aufrichtet und auf der Basis des Rationalen das Transzendentale schafft.« Diese metaphysische Funktion sei nur in Gestalt der »Typenbühne« zu erfüllen, die sich gleichermaßen vom literarischen wie vom politischen Theater zu unterscheiden habe. So fand die Schaffung eines idealisierten Figurentypus in Schlemmers bildnerischem Œuvre im Bereich der Bühne ihr Gegenstück in der entindividualisierenden Typisierung durch Maske und Kostüm. Beide waren anfänglich oft grotesk übersteigert und raumplastisch ausgreifend, wie die in der Stuttgarter Retrospektive effektvoll inszenierten Figurinen zum legendären »Triadischen Ballett« (1922) zeigen. Später trugen die Darsteller meist einfache Trikots, etwa in den drei Primärfarben Gelb, Rot und Blau, sowie stereotypisierte Masken, die einen universalen »Typenkopf« repäsentierten. Und die Bewegungen der Darsteller im Raum folgten einer strengen Tanzgeometrie bzw. – mit einem Begriff des Künstlers – einer »tänzerischen Mathematik«.

Doch zurück zur Malerei. Zu den eindrucksvollsten Bildern der Stuttgarter Ausstellung gehört das im Œuvre des Künstlers singuläre Gemälde »Paracelsus, Der Gesetzgeber« aus dem Jahr 1923. Hier ging es Schlemmer nicht um Porträtähnlichkeit, sondern um die Hommage an ein von ihm hochverehrtes geistiges Idol an der Schwelle zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit, dessen kosmologischem Konzept einer Konkordanz von Mikrokosmos und Makrokosmos den Künstler ebenso beeindruckt hatte wie dessen Dreigliederung des Menschen in einen irdischen, sichtbaren Leib, einen himmlischen, unsichtbaren Lebensgeist und eine göttliche Seele. Dass das Bild den Untertitel »Der Gesetzgeber« trägt, ist kein Zufall. Denn bei seiner lebenslangen Suche nach der großen, klaren, gültigen, »objektiven« Form entschied sich Schlemmer ungeachtet aller metaphysischen Neigungen für »Zahl, Maß und Gesetz« und beharrte auf jener »strengen Regularität«, die schon Philipp Otto Runge eingefordert hatte.

»Meine Themen, die menschliche Gestalt im Raum, ihre Funktion in Ruhe und Bewegung in diesem, das Sitzen, Liegen, Gehen, Stehen, sind ebenso einfach, wie sie allgemein gültig sind. Überdies sind sie unerschöpflich.« Mit diesen Worten des Künstlers lässt sich auch Schlemmers Werk als Wandgestalter beschreiben – von den (heute rekonstruierten) Wandmalereien und -reliefs im ehemaligen Werkstattgebäude des Bauhauses in Weimar über die drei Entwurfsstadien des in Stuttgart breit dokumentierten Essener Folkwang-Zyklus, teils mit zeittypisch sportlicher Thematik, die Wandgestaltungen im privaten Wohnhaus Rabe in Zwenkau bei Leipzig bis hin zu dem anrührenden späten Wandbild »Familie« von 1940, das sich ursprünglich im Haus Keller in Stuttgart befand und nun in der Staatsgalerie gezeigt werden kann.

Absolutes Highlight der Ausstellung ist die »Bauhaustreppe« von 1932, ein Schlüsselwerk, das als Leihgabe aus New York nach Stuttgart reisen durfte. Schlemmer hatte das Bauhaus, bereits 1929 verlassen, bevor die inzwischen im Stadtparlament dominierende NSDAP die Schließung dieser progressivsten Kunstschule der Zwischenkriegszeit durchsetzen konnte. Das Bild, das Figuren im lichtdurchfluteten Treppenhaus des Werkstattflügels des von Gropius entworfenen neuen Schulgebäudes zeigt, ist mehr als nur eine persönliche Reminiszenz des Künstlers an seine Zeit am Bauhaus, sondern hat als Symbol der Moderne längst Kultstatus erlangt. Tatsächlich scheint in diesem großformatigen Gemälde die »Vision einer neuen Welt« (so Untertitel der Stuttgarter Retrospektive) auf, die von der utopischen Hoffnung auf einen »neuen Menschen« in einer neuen, besseren, humaneren und sozial gerechteren Gesellschaft getragen war. Dass das nicht immer verstanden wurde und dass vor allem der von Schlemmer unablässig durchdeklinierte, überindividuelle Typus der menschlichen Figur Irritationen auslöste, war dem Künstler selbst bewusst: »Man wendet oft ein, dass meine ‚Menschen‘ keine ‚Gesichter‘ haben, höchstens ‚Puppengesichter‘. Man versteht leider nicht, daß dies Absicht ist, daß dies nicht anders möglich ist. Ehe wir das ‚Antlitz‘ malen können, malen dürfen, müssen wir den Typus erkennen, das Unpersönliche. Das ist wirklich keine ‚Vermassung‘.«

Begleitet wird die grandiose Stuttgarter Schlemmer-Retrospektive von einem exzellenten, bei Hirmer in gewohnter Druck- und Ausstattungsqualität erschienenen, dreihundert Seiten umfassenden Katalogbuch mit reichem Bildmaterial und aufschlussreichen Textbeiträgen von Ina Conzen, Wolf Eiermann, Susanne M. I. Kaufmann, Karin von Maur, Birgit Sonna und Friederike Zimmermann, die die nach wie vor grundlegende und unverzichtbare Standardliteratur zu Schlemmer von Karin von Maur (Monografie und Werkverzeichnis), Wulf Herzogenrath (Wandgestaltungen) und Dirk Scheper (Bühne) zwar nicht ersetzen, aber durch einige interessante Facetten und neue Akzentuierungen ergänzen und bereichern.

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