Ausstellungsbesprechungen

Parallelwelt Zirkus, Kunsthalle Wien, bis 2. September 2012

Seit jeher fasziniert der Zirkus Jung und Alt wegen seines ambivalenten Charakters zum Alltag und zu gesellschaftlichen Konventionen. Die Ausstellung in der Wiener Kunsthalle hat diesen Kosmos unter Zeltplanen auf wunderbare Weise eingefangen, sagt Rowena Fuß.

Hereinspaziert, hereinspaziert! Manege frei für Charlie Chaplin alias der Tramp. Hoch über dem Platz auf einem Seil balancierend wird er dabei von einer Horde ausgebrochener, böswilliger Äffchen attackiert. Sie zerren ihm seine Hosen herunter, um schließlich zu enthüllen, dass er vergessen hat, sein Trikot anzuziehen. Auf diesen alptraumhaften Höhepunkt hin sind die gesamte Vorgeschichte und das Finale des Stummfilms »Zirkus« (1928) zugeschnitten. Dieser führt den Besucher bereits auf der Treppe zu den Ausstellungsräumen in die wunderbare, ja geradezu magische Welt des Zirkus ein, die so anders zu sein scheint, als unser Alltag.

Während Charlie weiterhin herumturnt und nicht nur sein Filmpublikum zum Lachen bringt, staunt man nicht schlecht, was einen in der Ausstellungshalle erwartet: Zunächst Marcel Duchamps’s World Tour der seltsamen Gestalten, dann ein an der Wand befestigter, Kopf stehender Elefant. Ferner ein Zelt aus Glühbirnen, das sich wie von Zauberhand auf- und abspannen lässt. Aber nur, wenn man weiß, wie: Hinter einer schmalen Wand, vor neugierigen Blicken verborgen, steht nämlich ein kleines Fahrrad. Mittels eines kräftigen Tritts in die Pedale bewegt sich über ein mechanisches Kräfteleitsystem das Glühbirnengebilde auf und ab. Assoziativ hebt und senkt sich der Vorhang durch die Arbeit auf dem Rad — ganz wie in einer realen Manege. Dieses großartig illusionistische Werk mit dem Titel »Light Pavillon« stammt vom dänischen Künstler Jeppe Hein.

Bereits auf diesen wenigen Metern sind die wichtigsten Elemente der Parallelwelt Zirkus zusammengefasst: Exotik, Illusion/Täuschung, Schabernack, Fröhlichkeit und dem Leben als Drahtseilakt. Dass dieser Kosmos fasziniert, ist selbstverständlich. Und es ist auch kein Zufall, dass sich der auf ein Massenspektakel ausgerichtete Zirkus im Medium Film nur allzu häufig wiederfindet. Doch auch durch die unterschiedlichen Darstellungsformen der bildenden Kunst und der Literatur wird der Zirkus an sich weiter ausgeformt und erhält zusätzliche Bedeutungen.

Die Ausstellung versammelt insgesamt 40 künstlerische Positionen, die sich am reichen Bedeutungsrepertoire dieser Institution bedienen und Metaphern, Figuren und Formen entlehnen. Neben Chaplin werden bei den Filmen auch Federico Fellinis »La strada« (1954) und »I Clowns« (1970) sowie Ulrike Ottingers »Freak Orlando« (1981) und Alexander Calders Zirkus-Video in einem Seitenraum gezeigt: Mit leuchtenden Augen präsentiert der von Carlos Vilardebo 1961 gefilmte Calder etwa mit seinen handgefertigten Figuren akrobatische Glanzleistungen in einer abstrakt gehaltenen Arena.

Bei aller Fröhlichkeit und Buntheit finden sich aber auch düstere, melancholische Werke unter diesem Thema. Etwa bei Bernhard Buhmanns »Arena« (2010). Zu sehen ist eine in mehrere Teile untergliederte graue Felsenschlucht, in der einzelne Wanderer herumklettern. Zwischen die schroffen Felsen wurden Leinen mit bunten Wimpeln gespannt, die als einzige Elemente Fröhlichkeit vermitteln. Es ist ein Niemandsland, das außerhalb unserer Logik verortet ist.

Last but not least: die Spaßmacher und die Freaks. Mitten auf dem Weg in das hintere Hallenabteil liegt ein Clown. Die lebensechte Figur mit roten Radlerhosen, blauem Unterhemd, über das sie ein gelbes langärmeliges Hemd trägt und einer schwarzen Gesichtsmaske, die das Gesicht dominiert, scheint zu schlafen. Unter ihm ist Glitzerpulver verstreut. Anders als Cindy Shermans Clown, der den Besucher direkt anblickt, schwebt dieses Exemplar in der Welt der Träume, einer Fluchtwelt, die sich vermutlich als eine bessere als die reale darstellt.

Nur wenige Schritte weiter befindet sich eine Bilderpartitur von Ulrike Ottinger. 100 Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen nicht nur Bilder aus ihrem Film, sondern auch gesammeltes Material, das die hohe ethnografische Reflexivität — aber auch die Geschichte der Auseinandersetzung — mit dem Abnormen demonstriert. Es sind Fotografien von kleinwüchsigen Menschen, siamesischen Zwillingen, aber auch von afrikanischen Eingeborenenfrauen mit Holztellern in der Unterlippe oder Asiaten ohne Arme. Es ist eine trauriges Zeugnis davon, dass missgebildete Menschen besonders in früheren Zeiten (es sind auch Flugblätter in der Partitur vertreten), einzig in der Freakshow eines Zirkus Anstellung fanden und sonst als von Gott Bestrafte gemieden wurden.

So bezaubernd die Ausstellung ist, so faszinierend ist auch der Katalog. In einem handlichen Format bietet die Begleitpublikation in vier Aufsätzen und zwei Interviews tiefer gehende Informationen zum Zirkus als Ort der Welterkenntnis, der potenzierten Wirklichkeit, zum Zirkus als Weltmodell im Film und als Kunstform überhaupt. Im Anschluss daran gewähren die Künstler Peter Blake und Ulrike Ottinger Einblicke in ihre persönlichen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen.

So viel zum Textteil. Der Katalogteil bildet wichtige Werke der Ausstellung mit Kurzinformationen zum Künstler und dessen Arbeiten ab. Es macht gute Laune in dem fröhlich-gelben Buch zu blättern — ebenso, wie die Ausstellung zu besuchen und in die Spiegelwelt unseres Alltags abzutauchen!

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