„Fantasie und Leidenschaft: Zeichnen von Carracci bis Bernini“ ist der Titel einer Ausstellung, die das Frankfurter Städel Museum ausrichtet. Angeschoben und begleitet hat das Projekt der ehem. Leiter der Graphischen Sammlung Martin Sonnabend und fortgeführt die jetzige Leiterin Astrid Reuter und ihr Team. Gesammelt hat die Zeichnungen zum großen Teil der Kunstsammler und Mäzen Johann Friedrich Städel in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. Eine Rezension von Dietmar Spengler.
Eine Ausstellung mit Altmeisterzeichnungen zu bespielen ist in Zeiten der Eventkultur rar geworden. Eine Kunstgattung, die keineswegs den Mainstream repräsentiert, vielmehr den Kennern und Liebhabern vorbehalten ist. Geboten wird überschaubar Intimes. Dazu ist ein Katalog erschienen, dem eine wissenschaftliche Bestandbearbeitung zugrunde liegt, die sich aus einer Zeichnungs-Auswahl des italienischen 17. Jahrhundert aus Frankfurter Beständen speist. Das Projekt schließt an die von Joachim Jacoby durchgeführten Forschungen an und setzt eine konsequente Bestandsbearbeitung auf hohem Niveau fort - und dies trotz der gegenläufigen, gerne dem vermeintlichen Publikumsgeschmack folgenden Ausstellungen vieler Häuser. Ein hochkarätiges Wissenschaftsteam (Stefania Girometti, Sonja Brink und Carel van Tuyll van Serooskerken) hat die Bestände gesichtet, die Auswahl durchgeführt und bearbeitet. Publiziert wurden 90 Zeichnungen, davon sind 21 Blätter der Forschung unbekannt, bzw. unveröffentlicht. Eine Vielzahl der ausgewählten Zeichnungen wurde in diesem Katalog erstmals ausführlich eingeordnet und beschrieben.
Die barocke Schau, wie auch der Katalog sind nach italienischen Schulen bzw. Kunstlandschaften ausgerichtet. Bologna und Rom sind mit den meisten Werken vertreten. Florenz und die Marken, Neapel und Genua spielen eine beigeordnete Rolle. Es werden qualitativ herausragende Arbeiten von Künstlern wie die der Brüder Carracci, von Guercino, Stefano della Bella, Pietro da Cortona oder Gian Lorenzo Bernini vorgestellt, die den Barockbestand der Italiener exemplarisch abbilden. Die übrigen, hier nicht behandelten Werke sind über die Digitale Sammlung des Städel Museums online einsehbar. Bei der Durchsicht erweist sich der Katalog ordentlich durchrecherchiert und mit ganzseitigen gut reproduzierten Abbildungen versehen.
Einführend referiert Girometti über die Sammlungsgeschichte der ca. 500 Barockzeichnungen im Städel, schildert die Passion mit der die Kunstsammler und -kenner Zeichnungen des italienischen Barock schätzten, den Eifer mit dem Johann Friedrich Städel die Sammlung zusammentrug, die Akribie mit der seine Nachfolger im Museum Zeichnungen und Druckgrafiken durch Ankäufe komplettierten. Weiterhin werden die die Ausstellung prägenden Schulen mit ihren herausragenden Künstlern in Kürze vorgestellt, die Bedeutung der verschiedenen Schulen und der stilistische Austausch unter den Kunstlandschaften behandelt. Es folgt ein Kapitel „Materialtechnologischer Untersuchung der italienischen Barockzeichnungen“ in dem die Papierrestauratorin Jutta Keddies anhand von Fallbeispielen Zeichnungen von Carlo Maratti, Giovanni Maria Morandi, Annibale Carracci und anderen Zeichnern unter Anwendung moderner Untersuchungstechniken auf den Grund geht. Mittels Stereomikroskop und Digitalmikroskop werden Papierart, Wasserzeichen, Zeichengrund, Zeichenmaterial, Schadensstatus erschlossen. Auflicht, Streif- und Durchlicht, UV-Licht und Infrarot geben Aufschluss über die Materialität der Zeichnungen, sowie die Arbeitsweise der Künstler und können bei Zuschreibungen wichtige Anhaltspunkte liefern.
Mit Bologna und den Carraccis beginnt der Katalogteil. Unter mehreren präsentierten Zeichnungen von Agostino Carracci (1557-1602) dominiert das Studienblatt (recto u. verso) zum „Hl. Hieronymus“ (ca. 1600/1602). Hier kann man dem Zeichner bei seiner Suche nach einer kompositorischen Lösung über die Schulter sehen. Die Figur des Eremiten wird in drei unterschiedlichen Haltungen mit kraftvollen Federstrichen dargestellt. Letztlich war der Künstler mit keinem dieser Versuche zufrieden, die in der Endfassung als Kupferstichvorlage weiter entwickelt wurden. Überzeugend erscheint die an Annibale Carracci (1560-1609) zugeschriebene „Venus“ (ca. 1602) mit ihrer typischen Scriptura, der groben Umrisslinie und der sensiblen Modellierung. Der Akt wurde in Vorbereitung für das Gemälde „Ruhende Venus“ für den Kardinal Odoardo Farnese gezeichnet.
Domenichino (1581-1641), einer der führenden Künstler aus der Carracci - Akademie ist mit einer schönen Baumstudie vertreten, darunter anskizziert „Christus und die Jünger von Emmaus“ (ca. 1620). Das ursprünglich Annibale gegebene Blatt hat Catherine Loisel Domenichino gegeben, dem sich Carel van Tuyll anschließt.
Mit einer spannenden Suite von Feder-, Kreide- und Rötelzeichnungen wartet Giovanni Francesco Barbieri, genannt Il Guercino auf, darunter die schwungvoll heruntergezeichnete Rötelstudie des Mars (ca. 1649), zum Thema „Der wütende Mars wird von Amor gebändigt“, das Guercino in zwei Gemäldevarianten ausführte (ca. 1649). Die eines Salvator Rosa würdige „Alte Vettel“, hier der Nachfolge zugeordnet, vielleicht aber einem Neapolitaner zuzuschreiben, könnte einer schrillen Horrorkomödie entsprungen sein.
Mit Feinlinigem entzückt Simone Cantarini, der in duftig-leichten Lineaturen schwelgt. Aus einem Gewirr von Strichen und Linien entwickelt der Zeichner das Motiv des „Traums des Joseph“. Die Rötelkomposition steht im Kontext zu einem Gemälde selbigen Sujets im Dom von Camerino (1643-45) (105f.). Mit einer „Täufer-Predigt“ von Elisabetta Sirani, einer stupenden „Madonna mit Kind“ von Giovan Gioseffo dal Sole und weiteren Zeichnern werden die Bologneser abgerundet.
Im Rom der Päpste und Prälaten machte der „Cavaliere di Cristo“ Cristoforo Roncalli Karriere in Sachen gegenreformatorischer Kunst. Hier präsentiert er einen androgynen, elegant posierenden „Engel“ in roter Kreide (1600-05), über den ein Quadratnetz in schwarzer Kreide zur Übertragung gelegt ist. Giuseppe Cesari, gen. Cavaliere d’Arpino, erkennbar an seinem schnörkellosen, technisch anmutenden Zeichenstil, ist mit drei prächtigen Blättern präsent, darunter eine mehrfarbige Studie eines „Gregor Thaumaturgos“ (1610-12), die mit einem Fresko in der Cappella Paolina der Kirche S. Maria Maggiore, Rom zusammenhängt. Zu den herausragenden Künstlern Roms, wo sich ‚Cortonesken‘ mit ‚Marattesken‘ um die großen Aufträge stritten, zählt der Neapolitaner Gianlorenzo Bernini, dessen Ruhm sich neben seinem überragenden Können der Papstfamilie der Barberini verdankte. Sein „Männliches Porträt“ im Dreiviertelprofil nach rechts (ca. 1635) zeigt einen jungen, schmalgesichtigen Aristokraten, dessen distinguierter Blick auf dem Gegenüber ruht. Darüber sind die akkuraten Zeitgenossen-Porträts Ottavio Leonis nicht zu vergessen.
Die Cortona-Schule ist durch ihren Hauptmeister Pietro da Cortona, den Schülern und Adepten Giacinto Gimignani, Pietro Paolo Baldini, Ciro Ferri, Giovanni Battista Lenardi und Guglielmo Cortese vertreten. Tödliche Leidenschaften mit Hauen und Stechen gibt es bei Giacinto Gimignani mit dem Schlachtbild „Tod des Darius‘ III“ (1635-40) und Giovanni Battista Lenardi mit dem früher Romanelli zugeschriebene „Massaker an den glaubensabtrünnigen Juden durch den Hohepriester Mattathias“. Bei den Schülern des Andrea Sacchi geht es gemessener zu. Die große Entourage des bei Sacchi ausgebildeten Carlo Maratti pflegte klassische Kunsttradition und setzte sich ab von den pathetischen Ausdrucksformen der Cortona-Schule. Marattis Rötelblatt „Toribio Alfonso de Mogrovejo, Bischof von Lima und die Firmlinge“ (1655–56) kann sich auf ausgesuchte Abstammung berufen. Die aus der Sammlung Odescalchi stammende Zeichnung ging über Pierre Crozat, Pierre-Jean Mariette an Johann Friedrich Städel. Giacinto Calandrucci, ein äußerst produktiver Zeichner aus der Maratti-Werkstatt, hat die „Krönung eines Hl. Bischofs“ im Hochoval gefasst. Die als Modello konzipierte virtuose Federzeichnung gefällt durch fließende Lineaturen und sensible Weißhöhung.
Bleiben noch Florenz und Siena mit Jacopo Chimenti, genannt da Empoli, Fabrizio Boschi, Cristofano Allori, Ottavio Vannini und Stefano della Bella. Hier die reizende Federstudie eines „Studierenden Künstler am Zeichentisch“ (1620-30) von Chimenti, Alloris hübsche, vielleicht kopiertes Rötel-Porträt eines „Knaben mit Schirmmütze“, Boschis frappierende, minutiös durchgearbeitete Naturstudie einer Mantelfigur und die „Hirschjagd“ des Stefano della Bella (ca. 1654), die farbig aufgehübscht für den Flyer bzw. das Ausstellungsbanner herhalten mußte.
Nicht vergessen darf man den Urbiner Filippo Bellini, der mi drei seltenen Federzeichnungen brilliert. Abschließend seien noch zwei Künstler aus den Randgebieten Italiens vermerkt, wie der Genuese Giovanni Benedetto Castiglione mit seinen unverwechselbaren Stücken aus der Campagna und der neapoletanische Zeichenvirtuose Salvator Rosa, der bereits in der letzten großen Zeichnungsausstellung (2020) seinen Auftritt mit der umwerfenden Federskizze „Christus heilt den Besessenen“ (1660-62) hatte. Ist man mit dieser spannenden Lektüre am Ende angelangt, bleibt nur noch die Petitesse des etwas abgegriffenen Titels der Ausstellung, welche aber den Kunstgenuss nur wenig beeinträchtigt.
[Anm: Ob sich der noch Finanzminister Christian Lindner und die drei Vorstandsvorsitzenden der Börse, der Deutschen Bank und der Commerzbank als Stargäste der im Städel stattfindenden zweiten „IPO Night“ bei den Altmeistern Inspiration holten, darf bezweifelt werden.]
Ausstellung:
Fantasie und Leidenschaft
Zeichnen von Carracci bis Bernini
10.10.2024–12.1.2025
Katalog:
Titel: Fantasie & Leidenschaft: Zeichnen von Carracci bis Bernini. Städel Museum, Frankfurt am Main
Herausgeber:innen: Philipp Demandt, Regina Freyberger, Astrid Reuter, Martin Sonnabend
Verlag: Michael Imhof
304 Seiten
ISBN: 978-3-7319-1347-4
EURO 49,90