Ausstellungsbesprechungen

Picasso. Fenster zur Welt, Bucerius Kunst Forum Hamburg, bis 16. Mai 2016

Das Gesamtwerk eines so extrem wandlungsfähigen und innovativen Künstlers wie Pablo Picasso von einem einzigen Motiv aus zu beleuchten: Geht das überhaupt? Das Fenstermotiv, das in einer großen Hamburger Ausstellung Licht auf das Schaffen des großen Spaniers werfen soll, eignet sich wohl wirklich dafür. Stefan Diebitz hat in Hamburg eine ebenso monothematische wie vielseitige Ausstellung besucht.

Die in Hamburg ausgestellten Arbeiten Pablo Picassos umspannen tatsächlich fast sein riesiges Gesamtwerk, denn das erste seiner Fensterbilder malte er bereits im Alter von erst 18 Jahren, und aufgehört hat er damit nie. Unzählige andere Fensterbilder folgten, fast in jeder seiner Epochen malte er Fensterausblicke oder ließ Anspielungen auf Fenster in seine Bilder und in seine Gedichte einfließen, und endlich wurde Picasso auch vor Fenstern fotografiert – nicht etwa hin und wieder, sondern häufig, sehr häufig sogar. Offenbar hatten die Fotografen die Bedeutung des Fensters für sein Schaffen schon früh verstanden.

Allein der Kubismus (immerhin keine ganz unwichtige Phase im Werk Picassos) spielt in dieser Ausstellung keine Rolle. Als Erklärung wurde dafür angeboten, dass es dem Kubismus um das Volumen gehe, aber inwiefern das die Absenz eines sonst so gern genutzten Motivs erklären kann, habe ich nicht ganz verstanden.

Picasso scheint nicht gern gereist zu sein, und überhaupt war er kein Landschafter, wohl schon deshalb, weil er kein Freiluftmaler war. Picasso war ein Meister des Ateliers, und bis auf wenige Ausnahmen gehören fast alle Fenster, die auf den 40 Exponaten aus seiner Hand auftauchen, zu einer seiner Werkstätten. Denn immer wieder hat er sein Atelier gemalt, und es ist deshalb nur folgerichtig, dass im Katalog auf die Atelierbilder Caspar David Friedrichs und Carl Gustav Carus’ verwiesen wird, die Picasso allerdings nicht vor deren Wiederentdeckung im 1. Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gekannt haben wird. Auch ist an Leon Battista Alberti zu erinnern, der wohl als erster moderne Theoretiker der Kunst das Fenster als den Ursprung des Bildes angesehen hat.

In ihrem ehrgeizigen und sehr lesenswerten Katalogbeitrag erinnert die Malerin Esther Horn an diese reiche Tradition, aber vor allem geht es ihr um den Nachweis, dass Picasso sich schon in seinen frühesten Arbeiten als ein reflexiver Künstler zeigt. Und das Symbol dieser Reflexivität ist diesem Künstler das Fenster, durch das man hinaus auf die Welt schaut (das ist die traditionelle Sicht), das aber auch selbst durch eine aufgespannte Leinwand symbolisiert werden kann. Insofern wirft die Kunst also ihr Licht auf die Welt, nicht etwa umgekehrt. Folgerichtig malt der junge Picasso 1899 ein »Fenster mit Vorhang von innen« - offensichtlich ohne dass es ihm auf besondere Lichteffekte ankäme.

Horns Essay, der den Katalog eröffnet, muss schon deshalb eingangs besprochen werden, weil seine Einsichten bzw. deren telefonische Mitteilung die Ausstellung erst initiierten, wie die Kuratorin Ortrud Westerheid selbst sagt. Horn betont die Reflexivität bereits des ganz jungen Picasso, der auch später immer wieder an den zahlreichen Wendepunkten seiner Karriere Fensterbilder malt. Und wenn es keine Fenster sind, dann setzt er Rahmen in das Bild, als seien diese Fenster, oder lässt leitmotivisch Fenstergriffe auftauchen, so dass der Betrachter immer wieder an das Fenster erinnert wird.

Horns Picassobild ist auch insofern anders, als es nicht den vitalen Kraftmenschen Picasso in der Vordergrund stellt, sondern das Genie in eine Art Frühexistentialisten verwandelt. »Die Fensterthematik mit ihrem semantischen Synoym Bild (später auch Spiegel) entspringt einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit den eigenen existentiellen Voraussetzungen und konfrontiert den Betrachter mit elementarer Isolation, dem Alleinsein und auch dem Tod.« Für Horn ist Picassos frühes Werk »Teil einer sich selbst reflektierenden Avantgarde im ausgehenden 19. Jahrhundert.«

Die Ausstellung ist in acht Kapitel gegliedert, die sich in chronologischer Folge aneinanderschließen und das Leben von Picasso von seiner Zeit in Barcelona zur Jahrhundertwende bis hin in Mougins und Vauvenargues in seinen letzten Lebensjahren erfassen. Es sind Radierungen, Zeichnungen, Lithografien und Ölgemälde, und dazu kommen zahlreiche, teils sehr schöne, sogar meisterhafte Fotos, auf denen Picasso immer wieder mit Fenstern in Verbindung gebracht wird – nur ausnahmsweise außerhalb seines Ateliers und nur ausnahmsweise in Farbe. Immer wieder erscheint dort das Fenster als der große Lichtspender, so besonders schön auf einem Foto von Herbert List, in dem Picasso selbst inmitten seiner Bilder im seitlich einfallenden, ihn erst inspirierenden Tageslicht steht.

Folgt man Esther Horn, so sah Picasso das Fenster als Leinwand, als Lichtspender aber das Bild: »Denkt man diese Idee zu Ende, ist der dargestellte Raum lichtlos und der einzige Lichtträger und Zugang zur Außenwelt eine Illusion. Eine Illusion, die in eine existentielle Dunkelheit zurückwirft. In diesem finsteren Raum wird das Fenster zu einem geistigen Korridor, einer Öffnung zur Außenwelt, die auch das Licht der Erkenntnis, also geistigen Aufbruch, verheißt, oder eben eine sich hineindrängende Idee und Vitalität, das Leben, das sich Bahn bricht in dieses sinistere Innen.« Die Kuratorin Ortrud Westheider, die sich mit der Ausstellung aus Hamburg verabschiedet, wählte deshalb für die Wände der Ausstellung dunkle Farben: das Licht soll aus den ausgestellten Werken kommen. Bei einigen der Bilder funktioniert das ganz buchstäblich: sie scheinen zu leuchten.

Auch deshalb, weil ja das Fenster als Zeichen der Krise und der Selbstbesinnung verstanden wird und immer an den Wendepunkten seines Lebens auftaucht, sind die acht Kapitel der Ausstellung chronologisch geordnet. Das beginnt mit dem oben angesprochenen, in matt-bräunlichen Farben aufgetragenen Frühwerk, als sich der junge Picasso von dem Vater und seinen Traditionen des 19. Jahrhunderts abzuwenden beginnt, und führt dann über die verschiedenen Phasen seines langen Lebens bis hin zu den »Tauben im Atelier«, wie das letzte Kapitel überschrieben ist. Die Bedeutung der Taube für Picasso braucht wohl kaum näher erklärt zu werden, aber wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass Picassos Vater Tauben züchtete, dann schließt sich hier ein Kreis.

Von besonderer Bedeutung für das Gesamtwerk Picassos und entsprechend mit einem Beitrag von Westheider im Katalog gewürdigt, ist die Freundschaft zu Henri Matisse, der ebenfalls zahlreiche Fensterbilder malte. 1955 setzte Picasso ihrer langjährigen kollegialen Freundschaft mit »Das Atelier« ein Denkmal, in welchem er auch die Malweise von Matisse übernahm, bei dem das Weiß auch die Funktion besitzt, das Bild zu beruhigen. Westheider schreibt, Picasso »ließ sich […] auf diese Maßstäbe ein« und malte dekorativer, bunter und verspielter als sonst.

Immer wieder reflektieren die Bilder Picassos auch den Wettstreit zwischen Plastik und Malerei, und auch weil sich dieser Wettstreit meist im Atelier abspielt, kommt wieder das Fenster ins Spiel. Besonders eindrucksvoll ist hier das »Stillleben mit antiker Büste« von 1925 – bei kaum einem Werk dieser Ausstellung ist die Leuchtkraft eines Bildes derart kraftvoll. Hier berührt besonders der Kontrast zwischen den klassizistischen Linien (es könnte ein Apoll sein, der sich vor der hellen Fläche des Fensterrechtecks abhebt) und der rüden Malweise des Meisters, der auch vor Kratzen in den Farbschichten nicht zurückschreckte. Dem hier wie auch sonst sehr informativen Katalog kann man entnehmen, dass Picasso der Farbe Sand zusetzte – das ist ja eigentlich ein Trick, mit dem man der flächigen Malerei gern plastische Qualitäten einimpft.

Die durchdachte und reiche Ausstellung sollte man sich nicht entgehen lassen: So oft findet sich keine Gelegenheit, sich in Deutschland einen Überblick über das Gesamtwerk Pablo Picassos zu verschaffen.

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