Ausstellungsbesprechungen

Platino - Flechtwerke und Fliehkräfte, Württembergischer Kunstverein, Stuttgart, bis 5. Mai 2013

Ob nun beispielsweise die Stuttgarter Olgastraße oder der Württembergische Kunstverein – in der monumentalen Einzelausstellung mit Arbeiten des Künstlers und studierten Philosophen Platino fällt der Privatraum und der museale, öffentliche Raum ineins. Günter Baumann erkärt Ihnen, warum.

Die Übersetzung des individuellen Gedankenraums in ein regelrechtes Leitsystem innerhalb des ausladenden Vierecksaals des Kunstvereins ist nicht anders als genial zu bezeichnen. Dies betrifft sowohl die künstlerische Idee und – kongenial – die Realisierung im großen Stil, die in erkennbarer Arbeitsgemeinschaft von Künstler und Ausstellungsleitung entstanden ist.

Betritt man den Raum, ist man zunächst überwältigt von den pastelligen Wandflächen, ohne den Gesamtplan zu erkennen. Entgegen manch verstörender Einblicke, die der Kunstverein zuweilen in die Gegenwartskunst öffnet, breitet sich hier eher eine wohlige Stimmung aus, die zwar anhält, aber auch bei zunehmender Begehung der raumfüllenden Installation Irritationen hervorruft: Die pure Ästhetik stößt auf Barrieren, Durchblicke wechseln mit eingeschränkten Sichten, das knallrote Ambiente der Großfotos, das sich aus der Waagerechten entwickelt und meist erst in der Detailansicht sein ganzes Gewicht in das Konzept legt, das den Blick in wachsender Faszination von der Wand auf die Bodenflächen, von der Horizontalen in ein labyrinthisches System lenkt.

Als Platino mit seinen »Red Spaces« um 1980 Furore machte, war er gerade mal 30 Jahre alt, heute sehen wir das weiterentwickelte Gesamtkunstwerk eines 65-Jährigen. Mehrere »Spaces« und neue Räume namens »Externs«, die die Metamorphose des Raums sichtbar machen, führen dazu, dass man nie weiß, ob man als Betrachter Zeuge eines Kunstraums ist oder doch nur einer Versuchsanordnung – fertiges Bild und Plan bedingen sich gegenseitig, und zudem hebt sich die Grenze zwischen Fotografie und Malerei – letztlich auch die zur Architektur hin – auf. Hingen die Cibachrome-Bilder in fortlaufenden Bahnen an den vier Wänden, würde man wohl wie in Trance abdriften oder dem Eindruck plakativer Oberflächlichkeit anheimfallen, je nachdem, ob man das Werk psychologisch oder ästhetisch anginge.

Zum Glück entschieden sich die Ausstellungsmacher zu einer Mischung aus Platzgestaltung und Wohnarchitektur. So nimmt denn auch der Wandel vom ursprünglich im totalen Rot gründenden »Space« über die Lockerung der Rottöne durch andere Farbnuancen und schließlich auch durch Abgrenzungen die Prozessualität von Wachstum und Entwicklung einerseits, und im dokumentarisch-fotografischen Anspruch den Charakter einer Retrospektive an.

Der Württembergische Kunstverein macht es den Besuchern nicht leicht: In sehr komplexen Ausstellungen macht er sich oft genug zum Spielfeld existenzieller Ratlosigkeit, wie sie sehr wohl auch in der Gesellschaft zutage tritt – thematisch auf Erfahrungen und Erlebnissen basierend, konzeptionell jedoch betont planlos (wiewohl dahinter höchste intellektuelle Recherchen stehen). Dazwischen setzt das Haus auf Solo-Ausstellungen mit Positionen, die entweder an diesem gesellschaftlichen Diskurs teilhaben oder einen singulären Blick auf ein Werkganzes gewähren – etwa mit Präsentationen von Werken Anna Oppermanns, Teresa Burgas oder Michael Borremans’. Platino reiht sich da zwar ein, fügt sich aber auch durch seine inszenierte Raumerkundung in die andere Programmatik ein: ganz im Aktionsfeld von Privatem und Öffentlichem.

Vor allem die »Externs« entheben die Schau aus dem allzu Ästhetischen, konfrontieren den verfremdenden Rotfilter der frühen Langzeitserien, die die Sicht auf Wohnliches freigeben und zugleich hemmen, mit Müll- und Abfallszenerien, die immerhin keinen kleinen Teil der Zivilisation ausmachen. Dokumentation wird mehr und mehr Interpretation. »Flechtwerke und Fliehkräfte«, der Titel der Ausstellung, bündeln souverän die Energien im gesellschaftlichen Wandel: Werden und Vergehen, (Zusammen-)Wachsen und (Auseinander-)Weichen, Heim und Müll.

Der Stuttgarter Künstler hat in der Region, etwa in der Stuttgarter Staatsgalerie oder in der Städtischen Galerie Ostfildern, bereits seine Spuren hinterlassen: immer auf den jeweiligen Raum bezogen. Doch erstmals reizt er im Kunstverein den Raum in dieser Größe aus, führt die Symmetrie des Vierecksaals ab absurdum.

Gegen die urbane Anlage und die Wohn-Idee hat Platino auch eine Art Archivraum angelegt, wo Farbproben und -raster feinsäuberlich sortiert und präsentiert werden. Für den Betrachter ergeben sich einmal mehr Begegnungsräume der intendierten Welten von Arbeiten, Leben, Wohnen einerseits, von Kunst und Alltag andrerseits, und obendrein trifft er auf Räume von Ordnung und Chaos, die sich als solche unter einer Schicht changierender Schönheit verbergen.

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