Ausstellungsbesprechungen

PROFILE: Franziska Schemel und Voré

Aus der Eröffnungsrede von Günter Baumann anlässlich der Ausstellung im Rheumazentrum Baden-Baden.

… Fernab des Sturms, mit dem etwa die Leipziger Schule an die Öffentlichkeit gespült wurde, gedieh und gedeiht ein reges, buntes Kunstleben: Nie war die Szenerie so vielseitig wie in den letzten 20, 25 Jahren. Und um eine Pointe gleich vorweg zu nehmen, weil wir ja dennoch allesamt in einem Boot sitzen, es gibt Gemeinsamkeiten: Im Werk von Franziska Schemel und Voré können wir Anklänge an die altägyptische Kunst finden, die ich angesichts der hiesigen Temperaturen vorerst nur in der geographischen Assoziation als wärmenden Gedanken im Raum stehen lasse.

Bevor ich also in ferne Welten abschweife, lassen Sie uns erst einmal einen Blick in unsere Gefilde im Rheumazentrum von Baden-Baden werfen. Hier ist die Gemeinsamkeit auch zugleich eine Differenz: Beide Werke lassen sich künstlerisch mit der Plastik ein, wenn auch auf grundverschiedene Weise: Während Franziska Schemel, die ursprünglich von der Zeichnung und Malerei herkommt, gemalte Skulpturen schafft, welche im allerweitesten Sinne unter die Rubrik Relief zu zählen sind, schließt der Bildhauer Voré an die soziale Plastik in der Folge von Joseph Beuys an. Werden unter den Händen Vorés auch aus Linien und malerische Flächen auf Papier noch plastische Zeichen, fügt sich jedes plastische Element im Werk Franziska Schemels den Gesetzen der Malerei. In beiden Fällen ist der Raum unmittelbar mit einbezogen, bei Schemel als Illusionsraum, bei Voré als integraler Bestandteil der Arbeiten. Doch spielt auch die Zeit eine wesentliche Rolle: hier drängt sich förmlich eine Vorher-Nachher-Situation auf, dort meint man sie im Vor-, Über- und Hintereinander von Handlungsebenen wahrzunehmen…

Franziska Schemel ist hier im Rheumazentrum ganz in ihrem Element, das wird die Ausstellungsmacher freuen. Sie war so nett, mir im Vorfeld dieser Schau Bilder zuzumailen, damit ich einen Eindruck von den Räumlichkeiten bekomme. Wahrscheinlich instinkthaft kam sie nicht nur meiner Bitte nach, sondern sie outete sich dabei zugleich als Fotografin: So nahm sie ihre Arbeiten ins Visier ihrer Kamera und komponierte sie regelrecht in ihre temporäre Umgebung. Das Treppenhausgeländer wurde plötzlich zum grafischen, den Raum aufteilenden Element, genauso wie die Deckenplatten, die in perspektivischer Gesetzmäßigkeit ausstrahlten, Formen des nunmehr inszenierten Bildes aufgriffen. Oder die Raumfluchten der Gänge, an deren Wänden die Werke hängen, wiederholen unfreiwillig die Fotomotive, die den Kern von Schemels Schaffen ausmachen. So gesehen sind wir mitten drin im Werk der Künstlerin – bewusst oder unbewusst fotografierte sie ihre Arbeit, die genau derartige Motive zum Thema haben. Es ist das Bild vom Bild im Bild. 

Mit bewundernswertem Gespür zielen die kleinen Fotos auf den vielgerühmten günstigen Augenblick: Berechenbar ist er bei dinglichen Motiven, wenn etwa ein Lichtkegel einer Lampe oder der Tunnelblick einer Unterführung oder eben das Geländer eines Treppenhauses das Interesse der Künstlerin wecken. Ungleich schwerer wiegt die Anwesenheit von Personen, die Franziska Schemel bevorzugt in schmucklosen Passagen »unterwegs« einfangen will. Diese flüchtigen Momente fixiert sie auf einer dünnen Aludipondplatte. Soweit wäre der figurative Hintergrund in Franziska Schemels Kunst umrissen. Im Vordergrund steht die eigenständige, abstrakt-geometrisch auftretende Installation, die alles bloß Rahmende übersteigt. Das Foto wird in einer materiellen, zuweilen überbordenden Dramaturgie zelebriert, sodass das entstandene Gesamtbild als Malerei, Reliefskulptur wie als architektonische Raumphantasie gesehen werden kann und das Foto zum Bild im Bild wird. Der Augenblick, den die Kamera-Linse erfasst hat, trifft auf die vergleichsweise erhabene, scheinbar dauerhafte geometrische Form.

Ich sage mit Bedacht »scheinbar dauerhaft«, denn Innen- und Außenbild treten ja ästhetisch in Beziehung zueinander. Da sind einmal die fluchtenden Blickwinkel aus der fotografierten Realwelt, die linear vom abstrakten Bildfeld drumherum aufgenommen wird, der rahmende, flächige Umraum setzt die dreidimensionale Wirkung des fotografierten Raumes mit mathematischer Raffinesse fort. Materiell nehmen wir eine mehrere Zentimeter tiefe Plastik wahr, die genau genommen der Malerei angehört: Denn der sichtbare Rost ist keineswegs die Oberfläche eines Eisenkörpers, der schon durch das tiefgelegte Foto seinen plastischen Charakter unterstreicht, sondern es handelt sich um eine mit Edelstahl- oder Eisenpulver belegte Holzplatte oder Leinwand. Überrascht wären wir, wenn wir die Arbeiten in die Hand nehmen könnten und feststellten, dass die vermeintlich metallische Schwere trügt – die Objekte sind eher leicht. Franziska Schemel spielt uns und unsren Erfahrungswerten einen Streich und unterläuft souverän das Pathos, das ihre Arbeiten auf den ersten Blick vermitteln. Wenn sie dann noch in etlichen Werken die witterungsabhängigen Materialien Sand und Torf verwendet, die sie mit Acrylbinder und ähnlichem auf den Holz- oder Leinwandgrund aufträgt, relativiert sie den Eindruck des Dauerhaften, mehr noch: Fast hat man nach längerer Betrachtung den Gedanken, als könnte die wie im Schutz der von den Zeitläuften eben doch beeinflussbaren großen Form sich zurücknehmende fotografierte Welt sich als dauerhafter erweisen und behaupten. 

Dazu kommt noch ein weiteres. Durch die sich verändernden Wahrnehmungsebenen hinterfragt Franziska Schemel auch unsere Möglichkeiten einer subjektiven und objektiven Betrachtungsweise – der Mensch kann sich der einen wie der anderen nie ganz bewusst sein. Die Künstlerin sieht das aber durchaus positiv, macht es uns Menschen doch erfreulich fehlbar, eben – menschlich. Doch was können uns die betont eigen-willigen Arbeiten noch zeigen. Kaum hat man sie als Kunst mit wechselnd dominanten Ebenen in der Fläche akzeptiert, setzen sie sich selbstbewusst auch darüber hinweg. Die Hinterseite der Holzplatten versieht die Künstlerin mit Leuchtpigmenten, die auf der weißen Wand in bunten Farben reflektieren, als befände sich da eine versteckte Lichtquelle. Erst jetzt, unter Einbeziehung des nicht materiellen, nicht ertastbaren Lichts schafft Schemel eine bezaubernde echte Räumlichkeit, die wieder zum Foto – ursprünglich auch Lichtbildnerei genannt – zurückführt und zugleich eine Dimension andeutet, die wir nicht konkret erfassen. 

In ihren Objektbildern vereint Franziska Schemel malerische, plastische und raumillusionäre Elemente, erzeugt damit Irritationen, die zur Aufklärung reizen und doch manche Rätsel bewahren. Ein Mensch, wer Gutes dabei denkt. Mir kommt hierbei der Übergang zum Werk von Voré sehr gelegen. Noch viel deutlicher sind die erzeugten Irritationen für den Betrachter, zumal in dieser Ausstellungsumgebung. Der Bildhauer, dessen Arbeiten eher die vorläufigen Ergebnisse prozessualer Kunst darstellen, gönnt dem Betrachter keinen geometrisch-abstrakten Blickpunkt. Seine Frage ist weniger, welche Motive dauerhafter wirken, was zumindest die Illusion offenhält, dass der menschliche Wunsch nach Dauer irgendwo erfüllt wird. Vorés Kunst dauert an. Sie ist nicht abgeschlossen, sie verspricht aber noch nicht einmal eine Wechselwirkung zweier Zustände. Seine Kunst ist im Werden. 

Heißen Ausstellungen Franziska Schemels mit den ansonsten titellosen Arbeiten »Wayout«, »Stiller Dialog«, »expecting« oder »Bildobjekte – Objektbilder«, die die Richtung auf ein Ziel hin einschließen, benennt Voré seine Arbeiten ausdrücklich, aber auf den Prozess hin orientiert: »baustelle«, »barrikade«, »labyrinth« oder »monument für a.« – wobei das »a« für Antigone steht und in der sprachlichen Verkürzung einen konkreten Bezug absichtsvoll verleugnet. Wie eine Schutthalde müssen seine Installationen auf manche Betrachter wirken, die deren Fragment-Charakter nicht erkennen. Wie die Titel nahe legen, präsentiert Voré seine Kunst als eine Art Lagebericht gleichermaßen als Baustelle wie als archäologische Grabungsstätte – die verschlüsselten Spuren sind unverkennbar: in der Aufhäufung oder der Zur-Schau-Stellung von Steinmaterial, das je nach Betrachterwinkel als Abraum oder als Ansammlung plastischer Fragmente erscheint. Nebenbei will ich in diesem Kontext die Neugier etwas beflügeln, die der Künstlername am heutigen Abend schon geweckt haben mag: Voré ist nicht Abkömmling französischer Vorfahren, sein Name ist ein Zusammenschluss der Anfangsbuchstaben seines richtigen Namens, den ich hier jedoch keineswegs ausplaudern will. Der Bildhauer selbst sieht diese Bezeichnung als Firmenname an. Sie mag uns hier als Indiz verdeutlichen, dass Voré nicht daran gelegen ist, uns ein hehres Kunstwerk vorzuführen. Und schon daher liegt ihm nichts an Begriffen wie Dauer. Neuaufbau beziehungsweise Erhalt fällt hier in eins mit Zerstörung beziehungsweise Vergehen.  

Hier erweist sich Voré als Nachfahre der Romantik, dem letzten großartigen Versuch, die Welt als Epoche zu begreifen mit der lobenswerten, weil nicht gewaltsam zu ändernden Einsicht, dass allein der Versuch scheitern muss. Die Romantiker, die heute leider in völliger Verflachung des Begriffs als weltfremd oder aber als schlicht schöngeistig missverstanden werden, bedienten sich dabei der sprichwörtlich gewordenen Ironie, die auch in Vorés Werk überdeutlich vorhanden ist. Nicht ohne Witz macht er den antiken Mythos zum Steinbruch respektive zur Baustelle. Kongenial greift der Bildhauer das Spiel auf. Im Bewusstsein einer vergangenen Welt bleibt nur die lustvolle Rekonstruktion im Fragment, das heißt, im offenen Projekt. Auch dass Voré sich mehrerer Medien bedient, ist ein Reflex auf die Synästhetisierung in der Romantik und deren Idee vom Gesamtkunstwerk. Freilich stehen ihm dabei viel mehr Spielarten zur Verfügung: Voré arbeitet eng mit Musikern oder Tänzer(inne)n zusammen, bezieht Instrumente, Tonbandaufnahmen, Video und Computer mit ein. 

Da ein Ende nicht in Sicht ist, müssen wir uns im Rheumazentrum – so ist das Leben, mag man seufzen – mit einem Ausschnitt dieses ideenreichen Schaffens, ja Lebenswerks begnügen. Aber Voré entlässt uns dennoch nicht ohne sinnliches Erlebnis: Die markanten Meißel- und Zahneisen-»Gravuren« im Stein verweisen wie Sichtmarken auf die Arbeit an der Skulptur, das heißt der Stein wird seiner Natur nicht beraubt, figuriert aber trotzdem als Chiffre eines plastischen Werks – wir kennen ein ähnliches Vorgehen bei dem gerade mal drei Jahre älteren Künstlerkollegen Ulrich Rückriem. Verwendet der häufig einen harten Granit, bevorzugt Voré den im Münsterländischen beheimateten, fast hautfarbenen Baumberger Sandstein, der als Referenz an den menschlichen Körper zu werten ist. Dass Sie heute gültige Einzelwerke auf ehernen Sockeln betrachten, entspricht sozusagen einem Pars-pro-toto-Prinzip, wie auch aus der Titel-/Preisliste zu ersehen ist.

Ein weiter Bogen war zu schlagen, am Werk zweier Künstler mit einem solch enormen Reflexionsanspruch entlang. Während ich nun noch ein Bild zu imaginieren versuche, wie sinnlich dieser Anspruch umgesetzt wird – wie Franziska Schemel im Atelier, einer Art Alchimistenwerkstatt, ihre Pigmente und Ersatzstoffe zusammenrührt, wie Voré mit seinen Bildhauerhänden über den Sandstein streicht –, während ich noch einmal meiner Faszination Ausdruck verleihe, wie stark unsere menschliche Existenz aus diesen Arbeiten ablesbar wird, will ich auch einen letzten Bogen zum Anfang meiner Ausführungen zurückführen. Ich sagte, beide Werke würden Sich im Vergleich mit der altägyptischen Kunst begegnen. Längst scheint sich mir schon so ein vertrauliches Band um beide Werkgruppen gelegt zu haben.

In Schemels wie Vorés Arbeiten wird eine Fragilität in der Befindlichkeit des modernen Menschen sichtbar. Doch Franziska Schemel vermag in der Symmetrie und Sublimität, in der archaischen Anmutung und im stillen Rückzugstopos der Fotografie, die stellvertretend für die Grabkammer einer Pyramide stehen könnte, einen Hauch von Ewigkeit in diese brüchige Welt zu bringen, ohne dass sie selbst diese Assoziation je bewusst ihren Arbeiten zugrunde gelegt hätte. Voré, der im vergangenen Vierteljahrhundert mehrfach durch Ägypten gereist ist, ließ sich von dessen alten Reliefs und Wandmalereien inspirieren, um diese vergangene Welt ins Jetzt zu transportieren – vergleichbar den antiken Versatzstücken in den Plastiken. In Papiercollagen mit Bleistift und Acryl auf Holz, von denen Sie einige hier in der Ausstellung sehen, zitiert er kaum merklich einschlägige Motive, die gerade in der Skizzenhaftigkeit jeglichen Ewigkeitsanspruch aufheben zugunsten eines zeitgemäßen Werdens ohne Ende. Ihm geht es darum herauszufinden, was da mit der Hand und damit dem Stift, dem Papier, dem Holzgrund passiert, wenn die Assoziation nur einem ersten Strich den Anstoß gibt und die Gedanken ansonsten so frei wie eben möglich bleiben. In einem Künstlerbuch hat Voré diese poetischen Papierarbeiten zusammengefasst und mit Bruchstücken aus dem ägyptischen Totenbuch versehen. Unter einem auch hier gezeigten Bild, das sieben teilweise übermalte Farbkreise in ovaler Ordnung und in bewegter Ruhe unterhalb einer gekrümmten Horizontlinie um einen schemenhaft weiß auf weiß gemalten liegenden Sarkophag gruppiert, steht ein Spruch, mit dem ich zum Ende komme. Er handelt von dem Auge des aus einem Ei geborenen Sonnengottes Re, das ausgesandt wurde, aufbegehrende Menschen zu töten, während Re selbst den Toten in der Unterwelt leuchtet – die alten Vorstellungen sind widersprüchlich überliefert. »re hat mir die arme entgegen gestreckt. und seine diener werden mich nicht zurückweisen. wenn ich unversehrt bin ist auch das udjat-auge unversehrt. wenn das udjat-auge unversehrt ist bin auch ich unversehrt .« … 

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