Es ist die ereignisreiche Odyssee einer „Neuen Frau“ par excellence, die furchtlos und ohne Grenzen ist. Ylla war Teil der Künstlerkreise in Belgrad und Paris, floh jedoch während des Zweiten Weltkriegs über Marseille nach New York, wo sie ihre Karriere von Anfang an neu begann. Ein Buch über das bemerkenswerte Leben und Werk der Fotografin, gelesen von Annkathrin Sonder.
In den 1930er Jahren war die unter dem Künstlernamen „Ylla“ agierende Fotografin Camilla Henriette Koffler (1911–1955) eine prägende Figur des Pariser Kulturlebens. Als sie in die USA emigrierte, begann ihre schillernde, aber mitunter nicht ungefährliche Karriere als Tierfotografin. Dieser kostbar ausgestattete Bildband führt seine Leser:innen nicht nur in die vielfältige Tierwelt verschiedener Kontinente, sondern erzählt zugleich das Leben und Wirken einer abenteuerlustigen und mutigen jungen Frau, die ihre Passion schließlich schicksalshaft mit dem eigenen Leben bezahlte.
Die ungarische Fotografin Ylla studierte zunächst Bildhauerei an der Kunstakademie in Belgrad und ab 1931 an der Académie Colarossi in Paris. Gleichzeitig arbeitete sie als Foto-Retuscheurin und Assistentin der französisch-ungarischen Fotografin und späteren Freundin Ergy Landau (1896–1967). Schon bald begann sie, ihren eigenen Weg einzuschlagen und widmete sich einem zeitgemäß eher untypischen, wenig gefragten Genre: der Tierfotografie. Ihre Arbeiten wurden in der Galerie de La Pléiade ausgestellt und sie eröffnete ein eigenes Fotostudio für Tierfotografie. Yllas ungewöhnlich einfühlsame und humorvolle Interaktionen mit Tieren fanden schnell ein breites und kontinuierlich wachsendes Publikum. Von Paris aus, wo sie von der renommierten Agentur Rapho Guillumette vertreten wurde, arbeitete sie regelmäßig mit Londoner Zeitschriften wie Lilliput und Zoo Magazine zusammen.
Als Jüdin sah sie sich im Frühjahr 1940 zur Flucht über Marseille nach New York gezwungen, das New Yorker Museum of Modern Art hatte ihr ein entsprechendes Visum besorgt. In den Folgejahren kamen ihr nicht mehr nur Haus- und Nutztiere vor die Linse, sondern vor allem die in Afrika und Indien noch frei lebenden exotischen Tierarten, wie etwa Zebras oder Elefanten. Was selbst für heutige Verhältnisse noch nach einem höchst ungebundenen und unbekümmerten Leben klingt, wurzelt allein in der lebenslang ungebrochenen Faszination der Künstlerin für die Artenvielfalt der Tierwelt und ihrem nahezu unendlichen künstlerischem Reichtum.
Tiere überraschen uns immer wieder und wer sich wie Ylla voller Achtung auf ihre Eigenarten und Charakteristika einlässt, kann sie nur bewundern. Denn die Natur hat sie mit Superkräften ausgestattet, die für uns Menschen gerade deshalb ein bis heute ungebrochenes Faszinosum darstellen, weil wir sie nicht nachahmen können: von giftigen Flossen, falschen Köpfen bis hin zu Augen, die töten können. Die farben- und formenvielfältige Schönheit der Tierwelt und ihre instinktgeleiteten Reaktionen ziehen dabei nicht nur alle Blicke auf sich, sondern erscheinen darüber hinaus nicht wenige Male surreal und befremdlich. Seit Menschenbeginn eröffnet die uns umgebende Fauna mit ihrem facettenreichen Tierreich Phantasie- und Zufluchtsräume für unsere eigenen Sehnsüchte, unerreichbaren Utopien oder Visionen. Eine fesselnde Wirkung geht dabei auch von den gefährlichen Wildtieren aus, die sich dem Menschen als selbsternanntem Homo sapiens widersetzen, während unsere Haustiere zu treuen und langjährigen Lebensbegleitern werden, zu unerschütterlichen Freunden, engsten Vertrauten, innig geliebten Familienmitgliedern – und letztlich auch zu Projektionsflächen unserer eigenen ganz menschlichen Gefühle. All das vermag die Künstlerin in ihren Bildern einzufangen und viel mehr noch: Zwischen 1930 und 1950, einer Zeit also, in der das mitunter qualvolle Ausstellen exotischer Tiere zu Unterhaltungszwecken in Zoos und Zirkussen sowie ihre schonungslose Verwendung für die Entwicklung von Medikamenten oder für Kriegskontexte an der Tagesordnung stand, mangelte es flächendeckend an einem gesellschaftlichen Verständnis für einen würdevollen und respektvollen Umgang mit Zoo-, Nutz- und Wildtieren aller Art. Königliche Treib- und Hetzjagden von Elefanten in Indien versuchte Ylla durch ihre Fotografien ebenso aufzudecken wie die Tatsache, dass hunderte Elefanten, Tiger und andere Wildtiere zu Unterhaltungszwecken eingefangen und verkauft wurden. Es ging ihr also nicht ausschließlich um bildgebende, ästhetisch wertvolle Kompositionen, sondern zugleich um den Einsatz ihrer Fotografie als Medium der Dokumentation sowie Hilfsmittel, um Geschichten und Begebenheiten für die Nachwelt festzuhalten.
In Zeiten von Angst und Bedrohung, Flucht und Unsicherheit beziehen Yllas Fotografien ihre unvergleichliche Strahlkraft aus der unter zeithistorischen Dimensionen ungewöhnlich tiefen Verbundenheit zwischen Künstlerin und Sujet. Dabei verwehren sie sich nicht nur gegen eine Kategorisierung der Spezies, sondern ebenso gegen die trennscharfe Unterscheidung zwischen Urheberin und Kunstwerk. Denn nicht selten inszeniert sich die Fotografin selbst als Teil der Komposition: mit einem Eichhörnchen auf dem Kopf als fotografisches Stillleben; im Overall, Sonnenbrille und Haartuch der 50s neben einem Elefantenbaby in Indien, welches sie zärtlich am Ohr hält, oder gar metakünstlerisch mit ihrer Rolleiflex-Kamera.
Tiere zu fotografieren erfordert Geduld, Einfühlungsvermögen und das Talent, das Motiv umfassend über Wochen oder Monate in seinen Eigen- und Besonderheiten zu studieren. Mit ihrem Fachwissen, ihrem technischen Geschick und ihrem unvergleichlichen Umgang mit exotischen wie heimischen Tieren vor ihrer Rolleiflex-Kamera, versammelte Ylla in ihrem Studio in der 15 West 51st Street in Midtown Manhattan die unterschiedlichsten Tiere: Hunde aus Tierheimen, Kätzchen bis hin zu Ziegen oder zwei kleine Bären. 1946 folgte der Umzug ihres Ateliers und Wohnsitzes in die 200 West 57th Street, in der Nähe des Central Park und des Central Park Zoo sowie anderer Ateliers und Galerien, wie der Norlyst Gallery und der Weyhe Gallery. Nicht selten fungierte der Central Park als natürliche Kulisse für ihre Kompositionen. Auch verschiedene Zoos stellten wichtige urbane Orte für Außenaufnahmen dar. Die Tierfotografien der Künstlerin fanden in regelmäßigen Zeitabständen ihren Platz in renommierten Tierreportagen und waren auf den Titelseiten bekannter Zeitschriften, wie etwa „Life oder Popular Photography“ zu sehen. Da Titelbilder ein hochgeschätztes Ziel für Fotografen waren, verschaffte ihr dies ein hohes Ansehen als Tierfotografin in der amerikanischen und internationalen Presse.
Neben Zeitschriftenbeiträgen veröffentlichte Ylla erfolgreich 25 Kinder- und Tierbücher in verschiedenen Sprachen bei Verlagen in den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Die meisten ihrer Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Mit größter Akribie und Sorgfalt widmete sie sich ihren in den 1950er Jahren erschienenen Büchern, darunter der berühmte Bildband „Animals in Africa“ (1953, Harpers & Brothers) und ihre faszinierenden Reiseeinblicke in „Animals in India“ (Harpers & Brothers, 1958). Zu den Orten in Afrika, die sie besuchte, gehörten in Kenia der Nairobi-Nationalpark, der Tsavo-Nationalpark und das Masai Plains Reserve sowie in Uganda der Kasinga-Kanal, der Victoria-See, der Albert-See, der Nil und die Murchison-Fälle.
Im Jahr 1954 reiste Ylla auf Einladung des Maharadschas von Mysore nach Indien, von wo aus sie nicht mehr in die Vereinigten Staaten zurückkehren sollte: Am 30. Mai 1955 starb die Künstlerin im Alter von gerade einmal 43 Jahren beim Fotografieren eines Ochsenkarrenrennens in Bharatpur – einem höchst umstrittenen Spektakel, das erst 2014 in ganz Indien verboten werden sollte.
Wie viele künstlerisch hochgradig talentierte und zu Lebzeiten anerkannte Künstlerinnen ist sie jetzt, knapp siebzig Jahre nach ihrem Tod, durch dieses äußerst unterhaltsame und künstlerisch einprägsame Buch zurückgekehrt. Ein bedeutsamer Abschnitt in der Geschichte der Fotografie ist damit greifbar geworden, der von ihrem Patenkind, Prior Dodge zu Tage befördert wurde. Ylla hatte dessen Mutter im Paris der 1930er Jahre kennengelernt. Als die Künstlerin starb, war Dodge gerade einmal fünf Jahre alt. Fotografien, mitgebrachte Gegenstände aus Asien und Afrika, vor allem aber ihre die zu Lebzeiten erschienenen Fotobücher ließen die Künstlerin in Gesprächen noch lange nach ihrem Tod aufleben, wie der Buchautor schildert. Einem glücklichen Zufall haben wir es zu verdanken, dass Dodge ihren Nachlass erbte und die in Schubladen verwahrten Schriftstücke und Fotografien in „YLLA. The Birth of Modern Animal Photography“ sorgfältig aufbereitet einem internationalen Publikum zur Verfügung stellt.
„When we study animals, our aim is as often as not to learn more about ourselves rather than more about the animals we study“ (S. 15), hatte die Fotografin geäußert. Ihr größter Wunsch war ein Monat der Metamorphose. Eine Metamorphose, die es ihr nach eigener Aussage erlaubt hätte, in den Körper einer jeden existierenden Kreatur zu schlüpfen: Ob Fisch, Vogel oder Insekt, sie hätte Gefühle, Gedanken, Freuden und Ängste eines jeden Tieres am eigenen Leib nachvollzogen und wäre dann mit all diesen Erlebnissen zurück in die Menschenwelt gekehrt. Erst dann und nur unter dieser Voraussetzung wäre es ihr möglich gewesen, ein wirkliches Verständnis dessen zu entwickeln, was Leben ist.
In Zeiten von Klimakrise, Naturkatastrophen und Artenschwund, aber auch in Zeiten international wachsender Gegeninitiativen wie der Cruelty-Free-Bewegung, Vegetarismus und Veganismus, vermag uns dieses Buch auf authentische und berührende Weise daran zu erinnern, wie innig und einfühlsam, wie wertschätzend und kostbar die Beziehung zwischen Mensch und Tier sein kann. Und auch wenn Lebewesen von uns Menschen noch längst nicht wie teure Kunstwerke behandelt werden, so ist Yllas Vision 2024 in ihrer künstlerischen und gesellschaftlichen Dringlichkeit und mit größtmöglicher Verve zurück ins öffentliche Bewusstsein gekehrt.
Vorwort von Maneka Gandhi
Text: Englisch
240 Seiten, 287 Abbildungen
24 x 28 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-4262-4