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Quo vadis? Ein Rückblick auf das Kolloquium: Naumburger Meister. Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen

Seit dem 19. Jahrhundert hat die Frage, wer dieser herausragende Meister des Naumburger Westchors war, die Kunsthistoriker auf Trab gehalten. Mit knisternder Spannung und vereinten Kräften wurde das Geheimnis nun gelöst. Rowena Fuß war für Sie dabei.

Außerhalb des Bundessprachenamtes, wo das Kolloquium stattfand, wehte ein kühler Wind. Im gut besuchten Festsaal herrschte dagegen spätestens nach zwei Referaten stickige Luft. Das lag nicht nur an der Menschenmenge, die interessiert den Vorträgen lauschten, sondern an den Diskussionen zu den präsentierten Sachverhalten.

Die Ausgangsbasis schuf Bruno Klein, der als Erstes die bekannten Fakten zusammenfasste, bevor diese zerlegt wurden. Beginnen muss man bereits bei den Vorstellungen des Bauherren und dem Künstler, der diese umsetzen sollte. Der Naumburger Westchor besitzt ein multimediales Ensemble bestehend aus Architektur, Skulptur und Glasmalerei, welches das Stifterwesen veranschaulicht. Um die diesbezüglichen Vorstellungen zwischen Auftraggeber und den Künstlern abzugleichen, brauchte es Muster, z.B. in Form von Zeichnungen. Von der französischen Skulpturengestaltung in Reims angehaucht, aber in einer höfischen Typologie umgesetzt, boten daher nicht nur die Stifterfiguren selbst Reibungspunkte. Wie sich später zeigen sollte, führten auch die verschiedenen Rezeptionsstränge, die in der Chorarchitektur zusammenlaufen, zu Disputen.

Was der Naumburger Meister um 1250 geschaffen hat, ist für heutige Augen ein Gesamtkunstwerk. Doch war das bei seinen Zeitgenossen auch schon so? Jochen Schröder verneinte dies in seinem Vortrag unter Zuhilfenahme von zeitgenössischen Schriftquellen, darunter Architekturbeschreibungen von Burkhard von Hall zu Wimpfen, die Gralstempelbeschreibung im jüngeren Titurel, die Chronik von Wittewierum und in den Predigtauszügen des Bertholds von Regensburg. Demnach bleiben die einzelnen Gattungen, hier: Säulen, Fenster, Raum, im Gesamtkunstwerk autonom. Das Gesamtkunstwerk des 13. Jahrhunderts scheint nicht einen einzigen, beherrschenden Werkgedanken gravitätisch abzubilden, sondern wird in den Schriftquellen als eine gelungene Verbindung von Zyklen, die anhand ihrer Gattungen unterschieden werden, beschrieben.

Nach dieser ersten Dekonstruktion ging es im Referat von Christoph Brachmann um die französischen Voraussetzungen des Naumburger Westchores und der Stifterfiguren. Die seit Hamann MacLean rekonstruierten Stationen zur Wanderschaft des Naumburger Meisters — gleichgültig ob Einzelkünstler oder Werkstatt — standen dabei ebenfalls zur Debatte. Was passiert, wenn das bisher rekonstruierte Datengerüst weggelassen wird, zeigte im Anschluss an den Vortrag das Streitgespräch zwischen Brachmann und dem Kurator der Ausstellung zum Naumburger Meister, Hartmut Krohm. Dieser sah durch die Vorgehensweise Brachmanns seine eigenen Forschungen zu den Stationen des Meisters (Reims, Coucy, Noyon, Metz, Mainz, Naumburg, Meißen) in Gefahr. So führte der anfängliche Disput schließlich zu einer Grundsatzdebatte über die Wichtigkeit einer minutiösen Datierung bei der Sicherung von Befunden.

Als salomonische Lösung des Disputs bot sich der Vortrag von Marc Carel Schurr an. In einem hervorragend durchdachten und plausiblen Gedankengang verknüpfte er alle losen Enden rund um die Fragen zur Mitgliederzahl des Werktrupps, den wir als Naumburger Meister bezeichnen und wie „französisch“ er tatsächlich war. Da in Naumburg kein urkundlicher oder bauforschungshistorischer Hinweis vorliegt, das hier anders gebaut wurde als bei anderen Kathedralen, gab es mit Sicherheit einen Werkmeister. Was allerdings geklärt werden musste, war sein Anteil am Baugeschehen.

Die stilistischen Unterschiede der Stifterfiguren im Westchor deuten auf mehrere fähige Bildhauer hin, die demselben künstlerischen Leitbild gefolgt sind, in diesem Fall Reims. Die kongeniale Weise in der Architektur und Skulptur ineinander aufgehen, führt überdies zu der Annahme, dass der Chefbildhauer auch der Baumeister des ganzen Chores war. Ein Vergleich zum Prager Baumeister Peter Parler (1330/33-1399) lässt dies evident erscheinen. Parler war am Veitsdom Architekt und Bildhauer zugleich. Als Chefbildhauer leitete er ein Atelier mit mehreren Bildhauern, wobei er den Stil der Arbeiten vorgab. Gleichzeitig überwachte er den Bau des Doms.

Was die Gestaltung des Westchors in Naumburg angeht, müssen klare Vorgaben an die Bauhütte vorgelegen haben und einen Chefbildhauer, der Muster bereitstellte. Hier liegt auch der Kniff des Ganzen: Statt, so Schurr, den Chefbildhauer an den diversen oben genannten Kathedralbaustellen zu vermuten, könnte er ebenso Tonmodelle oder Zeichnungen verschiedener Bauelemente besessen haben. Dass der Naumburger Meister in Reims ausgebildet wurde, scheint sehr sicher. Warum also nicht annehmen, dass er auf der größten zeitgenössischen Kathedralbaustelle Kollegen aus Paris und anderswo getroffen hat, die ihm champagneske Modelle gefertigt haben? Diese Vorbilder wurden in Naumburg jedoch originell und eigenständig weiterentwickelt. Statt wie in der Pariser Sainte-Chapelle einen Glaskäfig zu errichten, erhielt der Naumburger Westchor ein eher plumpes Aussehen. Schurr nimmt an, dass der Naumburger Meister den Westchor wie ein Ganzes behandelt hat, aus dem er Einzelheiten herausstellte — analog zum bildhauerischen Vorgehen bei der Steinbearbeitung. Die tiefe Laibung der Fensterflächen, die Aushöhlung des Laufganges und die Profilierung der Fensterflächen verweisen zudem auf den Diskurs zur starken bzw. dünnen Wand in Reims und Paris, den der Meister in Naumburg in einem eigenständigen Konzept begegnete.

Die ondulierenden Dienste an den Pfeilern des Westchores klären zudem einen weiteren Punkt. Da es in Reims keine Dienste solcher Art gibt, aber im lothringischen Toul, stammte der Naumburger Chefbildhauer-Architekt vermutlich aus dem französisch-deutschen Grenzgebiet. Ein Blick auf den Touler und Naumburger Chor scheint diese Annahme, aufgrund der Ähnlichkeit beider Anlagen, zu stützen.

Nachdem dieser Kernpunkt geklärt worden war, konnte man sich nahezu entspannt den Bildprogrammen in den Glasfenstern und am Westlettner widmen. Gerhard Lutz verwies in seinem Referat zu den Entstehungszusammenhängen von Westchor und Lettner darauf, dass die ausdrucksstarke Mimik und Gestik der Lettnerfiguren eine emotionale Ansprache an den Betrachter darstellten. Als Vermittlerfiguren zum Chor bereiteten sie überdies dessen Memoriaprogramm vor. Inhaltlich schloss Guido Siebert hier an, denn die Glasmalereien des Westchores bilden den Schlussstein dieser Botschaft. Im Einklang mit dem Sieg der Tugenden über die Laster steht dem Betrachter die Überwindung von Glaubensgegnern gegenüber. Heilige im Priester- und Laienstand strahlen Vorbildhaftigkeit und Zielstrebigkeit im Glauben aus, die zur Nachahmung auffordert. Ob dies den Stiftern zu ihren Füßen gelingt, wird zwar offen gelassen, weist aber in diese Richtung. Der dabei in der Kleidung verwendete Zackenstil transportiert die Zerrissenheit und innere Erregung, die mit dem Bild gewordenen Erlösungsbedüfnis einhergehen. — Ein Bedürfnis, das nach der Masse an Informationen jeder Zuhörer verspürte und gerade um die Mittagszeit einen wahre Völkerwanderung in Richtung Kantine auslöste, getreu der biblischen Redewendung „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“. Dem ist wohl auch nichts mehr hinzuzufügen. Was bleibt, ist die Pracht des Westchors und die Bewunderung für dessen Meister.

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