Kataloge, Rezensionen

Ralph Melcher (Hrsg.): Alexander Archipenko. Retrospektive, Hirmer Verlag, München 2008.

Alexander Archipenko ist zweifellos einer der bedeutendsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts, der in rund fünf Dekaden sowohl eine Vielfalt an künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten als auch ein umfangreiches Œuvre hervorgebracht hat. Einen in Europa einzigartigen Werkkomplex dieses Künstlers besitzt das Saarlandmuseum, das neben Zeichnungen und Bronzegüssen sich glücklich schätzen darf, 107 Gipsmodelle aus allen Schaffensphasen beherbergen zu können.

Die Publikation „Alexander Archipenko. Retrospektive“, die zur Ausstellung im Saarlandmuseum 2008 erschienen ist, versammelt daher neben fundierten, wissenschaftlichen Aufsätzen zugleich das Verzeichnis des Bestandes, was als gute Ausgangsposition für Forschungsarbeiten gelten darf.

Was aber ist nun das Faszinierende an Alexander Archipenkos Werk? Dieser Künstler vermochte sein Publikum durch überraschende Stilwechsel zu irritieren, mit experimentierfreudigen Techniken und bis dato in der Kunst geschmähten Materialien den althergebrachten Begriff der Skulptur zu erweitern. Darüber hinaus, so Kathrin Elvers-Švamberk in ihrem Beitrag „Von der Materialität des Nicht-Vorhandenen – Alexander Archipenko und die Vitalität des Raumes“, hat der Künstler „in der unkonventionellen Reflexion verschiedenster bildhauerischer Traditionen der modernen Plastik etliche unerwartete Impulse vermittelt.“ Elvers-Švamberk verfolgt in ihrem klar strukturierten Essay in pointierter Sprache und anhand zahlreicher Beispiele die Entwicklung Archipenkos von den Anfängen seines künstlerischen Schaffens bis hin zum Spätwerk. In diesem weiten Feld nun zeichnet sie, meist von einfühlsamen Werkbeschreibungen begleitet, die Entwicklung hin zur Lebendigkeit des Raumes in den Figuren nach und dokumentiert damit Archipenkos „fortgesetztes Ringen um den Ausdrucksgehalt einer aus der Leere gewonnen Gestalt“. Der stilistische Wandel, der sich etwa mit der Umsiedlung des Künstlers von Paris nach Berlin im Jahr 1921 vollzog, verdeutlicht die Autorin mit Hilfe ausgewählter Werke und verstrickt den Leser zusehends in einen Dialog mit jenem vielschichtigen Werk. Glaubten wir beispielsweise, Archipenko mit seinen kühnen und experimentellen Formerfindungen der 1910er Jahre gefunden zu haben, so begegnet uns in den 1920er Jahren ein sanfter, in seiner Dynamik zurückgenommener, „schönliniger Klassizismus“, wie Elvers-Švamberk es formuliert.

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Im Fokus von Karen Straubs Beitrag „Geformte Farbe und farbige Form – Alexander Archipenkos Reliefs und Skulpto-Malereien“ stehen die flächig anmutenden Reliefs und jene neuartige „Zwitter-Gattung“ der Skulpto-Malerei, die nach Aussage des Künstlers „die größte Wahrheit in der plastischen Kunst“ sei. Sie erscheint dem Künstler als ein „neue[r] Typus der Kunst dadurch, daß Relief, konkave oder perforierte Formen, Farben und Gefüge voneinander besonders abhängig gemacht werden.“ Die Autorin spürt anhand aussagekräftiger Beispiele der Verwandlung von Farbe in Form und von Form in Farbe nach, wobei sie zu dem Ergebnis gelangt, dass „in den Grenzbereichen zwischen Farbe und Skulptur […] die gewohnten Eindeutigkeiten“ verschwimmen. Archipenkos Suche nach einer neuen Formensprache – und das führt Straubs Essay uns vor Augen – lässt ihn zu einer so noch nicht gesehenen Verbindung von Malerei und Plastik gelangen, wobei er dem Gegenständlichen stets verhaftet blieb. Wenngleich der innovative Charakter und die Qualität der Arbeiten des Frühwerks, die sich einer – so die Autorin – „eindeutigen Gattungszuordnung entziehen“, von seinen Zeitgenossen gewürdigt wurde, so fand seine Skulpto-Malerei keine direkte Nachfolge.

Mit Hilfe zahlreicher Zitate Archipenkos begibt sich dagegen Alexandra Keiser in ihrem umfangreichen Textkorpus „Paris, Berlin, New York – Alexander Archipenko in den zwanziger Jahren“ auf die Spur seiner Arbeit in jener historisch bewegten Dekade des 20. Jahrhunderts. Sie beleuchtet sowohl das Privatleben Archipenkos als auch dessen künstlerisches Wirken in Ausstellungen oder als Dekorationsdesigner sowie seine Erfindung der Archipentura – einem elektrischen Apparat, der mehrere Bilder anzuzeigen vermochte und auf diese Weise eine sich bewegende Figur stimulierte. Zudem ist die Autorin bemüht, das Schaffen des Künstlers nicht im luftleeren Raum verklingen zu lassen, sondern es in den historischen Kontext zu integrieren. Dabei scheint sie bisweilen auf Seitenpfade abzugleiten, die den Leser – wenngleich mit interessanten Informationen – vom Wesentlichen ablenken. Sicher ist es schwierig, Archipenkos Leben, das in den zwanziger Jahren in den Metropolen Paris, Berlin und schließlich New York stattfand, in einem kurzen Text einzuschmelzen, aber vielleicht hätte es in manchen Passagen des Mutes zur Lücke bedurft. Am Ende ihres Beitrages gelangt Keiser dann aber zu einem bündigen Fazit, indem sie in wenigen Sätzen einerseits die Veränderungen, die die Umzüge des Künstlers mit sich brachten und andererseits die Konstanten darlegt, wie das Festhalten an der Philosophie Henri Bergsons, der Glaube an das Geistige in der Kunst oder das Thema der weiblichen Figur.

Einen sprachlichen Hochgenuss verschafft uns Mona Stocker mit „Fülle und Leere – Zum Raumverständnis in der Bildhauerkunst von Alexander Archipenko und Rudolf Belling“. Sie öffnet mit ihrem Text und dem vorangestellten Vasengleichnis Lao-tses – „Das Seiende bringt Gewinn, aber erst das Nicht-Seiende erlaubt den Gebrauch“ – die Pforte zu einem wichtigen Werkbestandteil Archipenkos: dem Raum. In einem ersten Schritt widmet sich die Autorin dem Raumverständnis des Künstlers, bei dessen Werken „vor- und zurückgewölbte Formflächen […] in einen variantenreichen Austausch [treten], der den umgeben Raum unabdingbar mitdenkt und mit einbezieht, ihn […] zum integralen Bestandteil des Kunstwerks macht.“ [Mona Stocker] Der freie Raum erfährt damit eine fundamentale Aufwertung: Er ist, so fährt Stocker fort, „nicht Leere oder gar Nichts, er ist im Gegenteil Platzhalter und Bedeutungsträger des Virtuellen.“ Dieser Thematik hatte sich Archipenko über eine Art Fragmentierung seiner Arbeiten angenähert, wobei Rodins Umgang mit dem Torso wohl auch bei Archipenko auf fruchtbaren Boden gefallen war. Neben jenem Verweis auf die ältere Bildhauergeneration, betont die Autorin immer wieder den Einfluss der chinesischen Ästhetik, die Leere als aktive Tätigkeit versteht. Um Archipenko mit Rudolf Belling schließlich in Vergleich treten zu lassen, wählt sie den Weg über die Musik. Die musikalische Pause wurde von Archipenko als Leere verstanden und Belling erklärte deren Gesetzmäßigkeiten zum Movens seiner eigenen Bildhauerei. Anhand von Werkbeispielen, die in metaphorischer und zugleich präziser Sprache beschrieben sind, tastet sich Stocker voran, um am Ende nicht nur die Unterschiede diagnostizieren zu können, sondern in der „gedanklichen Umpolung vom Toten zum Lebenden, in der Nutzbarmachung des bisher als unnütz oder nicht vorhanden Erachteten“ die Gemeinsamkeit im Schaffen beider Künstler zu erkennen.

Ute Dietzen-Seitz und Brigitte Schröder legen schließlich in „Der rote Blaue Tanz – Zur Restaurierung eines Gipses von 1913“ den spannenden Restaurierungsprozess dar, der Wiederherstellung der „optische[n] Authentizität des Kunstwerkes“ zum Ziel hatte, wie es die Autorinnen formulieren. In einzelnen Schritten wird dem Leser Einblick in ein im Verborgenen stattfindendes Schaffen gewährt, dessen Bedeutung besonders dem Museumsbesucher oftmals nicht bewusst ist, begegnen ihm doch ausschließlich Werke, die scheinbar – aber auch nur scheinbar – keiner akribischen Aufarbeitung bedurften.

Neben den informativen und spannend zu lesenden Essays sowie dem Bestandsverzeichnis, überzeugt diese Publikation nicht zuletzt durch die in hervorragender Druckqualität – und größtenteils in Farbe – wiedergegebenen Abbildungen. Ob in Händen von Studenten, Wissenschaftlern oder einem fachfremden, aber interessierten Publikum ist dieses Buch wertvoll und leistet einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Aufarbeitung des Œuvres von Alexander Archipenko. Fazit: Eine Lektüre, die zum weiteren Eintauchen in das Werk dieses Bildhauers animiert!

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