Buchrezensionen

Roberto Calasso: Das Rosa Tiepolos, Carl Hanser Verlag 2010

Tiepolo ist kein Maler, der gerade en vogue ist. Eher im Gegenteil: Das Rokoko scheint den meisten von uns sehr fern, und vielen Kunstfreunden von heute dürfte der virtuose Freskenmaler Giovanni Battista Tiepolo eher als eine Art Dekorateur erscheinen. Man bewundert seine Kunstfertigkeit, ohne seine Deckengemälde mit den bauschigen Wolken, den allegorischen Figuren und den schönen nackten Frauen allzu viel Liebe oder Respekt entgegenzubringen. An was es Tiepolos Person mangelt, ist Tragik, und seiner Kunst fehlt das Pathos. Der italienische Verleger und Autor Roberto Calasso hat nun ein Buch vorgelegt, nach dessen Lektüre man den Bildern des großen Venezianers ganz anders gegenübersteht. Stefan Diebitz hat das Buch gelesen und zahlreiche Vorurteile über Bord geworfen.

Roberto Calasso © Carl Hanser Verlag
Roberto Calasso © Carl Hanser Verlag

„Tiepolos Künstlerdasein“, schreibt Calasso, „ist von grenzenloser Monotonie.“ Von dem Leben des Venezianers (1696–1770) kennt man zwar alle seine Stationen genau, aber über ihn weiß man dennoch erstaunlich wenig – er hat, wie es scheint, weder in seinen Bildern noch sonst etwas von sich preisgegeben, und so verzichtet der Autor fast ganz darauf, das Leben dieses Malers nachzuerzählen. An einer Stelle spricht er gar von einem „Ich […], das ihm wahrscheinlich abging“. Eben dies ist es paradoxerweise, was Tiepolo für Calasso interessant macht: Weil sich aus der Person kein Honig saugen lässt, kann sich der Autor ganz auf dessen Malerei konzentrieren.

Seine Rätselhaftigkeit hängt vor allem damit zusammen, dass Tiepolo, wie Calasso schreibt, der letzte war, „der zu schweigen verstand.“ Der Maler schrieb zwar viele, viele Briefe, aber weder über seine Bilder noch über ihn selbst können wir aus seiner Korrespondenz etwas lernen; weder interpretierte er sich selbst, noch äußerte er sich über seine Absichten und Gedanken. Die Rätselhaftigkeit seiner Bilder, die sich offenbart, wenn man nur etwas näher hinschaut, korrespondiert mit diesem tiefen lebenslangen Schweigen. „Nie“, schreibt Roberto Calasso, „setzte er Symbole und Bedeutungen in Positur, was in aller Regel dazu führte, daß die Symbole und Bedeutungen unerkannt blieben.“

Stichwort des ersten von drei Kapiteln ist die „sprezzatura“, ein dem höfischen Leben entnommener Begriff. Sprezzatura ist die Fähigkeit, etwas leicht und mühelos zu tun, und diese Fähigkeit besaß Tiepolo offenbar im Übermaß, was sich nicht zuletzt in seiner legendären Fähigkeit zum schnellen Malen ausdrückte (nicht umsonst wurde er als Maler von Fresken berühmt). Sprezzatura zeichnet wohl auch die fünfunddreißig »Scherzi« aus, die Calasso in dem zweiten Kapitel des Buches in den Mittelpunkt stellt und ganz anders als andere Kunsthistoriker interpretiert, nämlich erst einmal wichtig findet und sodann als den subversiven, dank des ehernen Schweigens dieses Malers nicht auszudeutenden Sinn seines Lebens und seiner Bilder ansieht.

Dass Tiepolo in den »Scherzi« „sein Geheimnis lüftete“, wie Calasso schreibt, bevor er sich mit ihnen näher beschäftigt, ist also etwas zu viel versprochen, denn er kann uns ihre Formen und Gestalten wohl vorstellen, aber auszudeuten vermag eben auch er sie nicht. Was der sehr gelehrte und scharf hinschauende Autor hingegen zeigen kann, ist, dass viele der Gestalten der »Scherzi« in den Gemälden und Fresken wieder auftauchen, so dass dem Betrachter auch diese leicht hingeworfenen Fresken allmählich suspekt und ganz gewiss weniger leichtfüßig und heiter vorkommen. „Man bekommt Angst“, behauptet Calasso von den Blättern, und diese Angst vermeint er auch in den Fresken und Gemälden wiederzuentdecken.

Die »Scherzi«, ein „gespenstisches Werk“, entfalten einen Roman, so der Autor wörtlich, der ihre bis zu einem gewissen Grad sterotypen Bildelemente nachzeichnet. Solche Stereotype sind die schrägen Linien, die Calasso dazu veranlassen, Tiepolo den „Maler der Stangen“ zu nennen. Und die Gestalten! Im Grunde ist es eine Wiederkunft der ewig gleichen, nämlich der immer selben Figuren. Zu ihnen, die auf den Fresken wie in den »Scherzi« auftauchen, gehören neben kleinen Hündchen und Schlangen junge, nackte Frauen, alte Männer an deren Seite und nicht zuletzt die Orientalen, „in denen sich die Heiligen Drei Könige mit den jüdischen Propheten, hermetische Weise mit levantinischen Händlern oder Räten am Hofe ferner Reiche verbanden. Sie mußten hieratisch und weltlich sein, gebieterisch und allgegenwärtig.“ Was Calasso von den Orientalen sagt, gilt auch für eine Menge anderer aus der mythologischen Staffage dieser Bilder: Sie tauchen immer wieder auf, mal in dieser und mal in jener Rolle oder Maskerade. Eigentlich sind sie zeitlos.

Calasso hat viel über Mythologie geschrieben, und die Mythologie scheint der rote Faden eines insgesamt auf fünf Bände angelegten Zyklus zu sein, zu dem dieses Buch über Tiepolo gehört. Der Venezianer ist ihm deshalb wichtig, weil die Mythologie, so spielerisch-leichtfüßig und so wenig ernsthaft sie auf den ersten Blick in seinen Fresken daherkommt, für diesen Maler eben nicht das bloße Spiel war, als das es zunächst erscheint. Ein wenig fühlt man sich an die groteske Welt eines Fritz von Herzmanovsky-Orlando erinnert, der bekanntlich noch an die Gegenwart der antiken Götter glaubte und sie ein Land namens „Tarockanien“ bevölkern ließ. Besonders deutlich wird die Bedeutung alles Mythischen an den häufig vorkommenden Schlangen. „Wenn es bei Tiepolo ein Geheimnis gibt, dann sind es die Schlangen“. Sie bieten dem Autor die wahrscheinlich sehr willkommene Gelegenheit, sein ganzes reiches Mythenwissen auszubreiten. Er beginnt mit der Bibel und gelangt über »Exodus« und Neues Testament zur römischen Geschichte; endlich gar findet er Schlangen auch bei Michelangelo und in einer Mailänder Kirche.

Die Schlange, die Calasso die „einzige Spezies von nachweisbarer Universalität“ nennt (natürlich im Kosmos Tiepolos), soll oder vielmehr muss in einigen biblischen Geschichten angeschaut werden – nur wer sich zurückwendet und die Schlange ansieht, der ist gerettet. Das bloße untätige Anschauen wird in Tiepolos Bildern deshalb immer wieder thematisiert. Man hat sich dem Bild hinzugeben – dem reinen Bild, der reinen Malerei, und dieses Anschauen ist so stumm, wie es Tiepolo selbst gewesen ist. Es sind besonders die Orientalen, die Calasso hier zur Bestätigung seiner These heranzieht: Sie sind die randständigen, das Geschehen stumm beobachtenden Figuren. Die Schlangen und die Orientalen sind bei Tiepolo deshalb so wichtig, weil sie uns zeigen, wie man einem Kunstwerk begegnen soll: nämlich wortlos. „Die Frage der Schlangen ist die schwierigste, die sich bei Tiepolo stellt. Eine theologische Frage und erst dann eine malerische. Wer Rätsel sucht, wird bei ihr fündig. Auch ist es eine stumme Frage, denn weder Tiepolo noch seine Zeitgenossen haben ein einziges Wort hinterlassen, das uns einer Antwort näherbrächte. Stumm muß sie auch bleiben – wie schließlich jedes angemessene Verständnis der Malerei.“

Zum Ende seines Buches hin bezieht sich der Autor dann doch auf den Lebenslauf Tiepolos, indem er dessen Jahre in Madrid berichtet. Richtig glücklich wurde Tiepolo dort nicht, nicht zuletzt, weil ihm Raphael Mengs vorgezogen wurde, der in den Augen Calassos keinesfalls das Niveau des verehrten Meisters aus Venedig besaß. Auch in Madrid blieb Tiepolo seinen Gegenständen treu (besonders der Nackten und dem Alten, zum Beispiel in Gestalt von Venus/Aphrodite und der Allegorie der Zeit); aber diesmal heißt das ungleiche Paar Maria und Josef. „Die vier Gemälde der Flucht nach Ägypten sind der diskrete Einsatz eines Schlußmonologs, eine leise Rezitation, deren ganzen Reichtum an Anspielungen und Details nur die Söhne Giandomenico und Lorenzo hätten verstehen können. Giambattista deutet an, daß auch er an seinem grünblauen Fluß angekommen ist, der den Tod bedeutet. Er malte am Ufer dieses Flusses den einen oder anderen schrägen Stamm, der vielleicht sein ältester und treuester Begleiter war […]. Wichtig war der nackte Stamm, jene beiden schrägen Linien, die über die Leinwand hinliefen und die Malerei selbst waren, welche bis an den Rand des eiskalten Wassers reichte.“

Der Übersetzer hat das wahrscheinlich sehr feurige Italienisch des Verfassers in ein entsprechend temperamentvolles, gut lesbares und poetisches Deutsch übertragen. Calasso, im Hauptberuf Geschäftsführer eines Verlages, ist in seiner Heimat als Stilist, ja als Sprachartist bekannt, und es ist nicht leicht, sich dem rhetorischen Feuerwerk zu entziehen, das er in seiner Prosa darbietet. Dieser Autor ist beredt wie wenige sonst, und er ist es auf eine höchst mediterrane, elegante und leichte Art; auch ihm selbst scheint die sprezzatura nicht ganz fremd zu sein. Wären die Illustrationen nur etwas höherwertig, entstände bei der Lektüre ein noch viel größeres Vergnügen. Die meisten Leser hätten wohl gern fünf Euro mehr ausgegeben, wenn sie dafür einige schöne Kunstdrucktafeln bekommen hätten. So muss man sich die Bilder Tiepolos anderweitig besorgen.

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