Buchrezensionen, Rezensionen

Roland Stratmann. Die Linie falten - Plier la ligne, Verlag für moderne Kunst 2011

Der jüngst im Verlag für moderne Kunst erschienene Band widmet sich auf einfühlsame Weise dem zeichnerischen Œuvre des 1964 im nordrhein-westfälischen Weseke geborenen Künstlers. Dabei werden dem Leser motivische Fabulierfreude, philosophische Durchdringung, poetische Verschmelzung von Bild und Sprache sowie jene tänzerische Leichtigkeit und durchdachte Präzision der Linie in Bild und Text vermittelt. Eine Besprechung von Verena Paul.

Einen großen Raum nehmen in vorliegender Publikation Roland Stratmanns Endloszeichnungen ein. Hierzu zählen die Zyklen »Deseo« und »Olymp« (2004), »Eden« und »Medea« (2005) sowie der »Bond«-Zyklus aus dem Jahr 2007, die auch das Zentrum von Ana María Rabes wissenschaftlich fundierten Beitrag »Im Gewebe der Möglichkeiten. Von Fäden, Labyrinthen und anderen Optionen« bilden. Aus einem einzigen Faden heraus entwickelt Stratmann in jenen Zeichnungen einen kleinen Kosmos, so dass »Figuren, Szenen, Lebenswelten, Mythen, Sehnsüchte, Versprechungen erscheinen und verschwinden« und sich, wie Rabe erklärt, »in einer ständig fortschreitenden, gleichmäßig dünnen Spur [verbergen], die verschlungene, unvermutete Wege geht.« Entstanden sind phantastische Geschichten, die durch vielschichtige, metaphorische Titelsätze noch geheimnisvoller wirken. Paradigmatisch hierfür ist der Satz »AUFGEREIHT GLÄNZTEN IHRE SCHÄDEL GLEICHMÜTIG, WÄHREND IM INNERN IHRES UNFORMATIERTEN DATENGEHÄUSES DIE SYNAPSEN TANZTEN«. Er prangt unter einer Arbeit, die den Blick in mit unterschiedlichen Gedanken gefüllte Köpfe freigibt. Allerdings nehmen die enigmatischen Worte keine Deutung des Werkes vor, sondern unterstreichen vielmehr die Wandelbarkeit und Vielschichtigkeit des Bildinhaltes. Die nach 2008 entstandenen Serien werden hingegen reduktiver und weichen die aus Linien konstituierte Gegenstandswelt sukzessiv auf. Stratmann offeriert jedoch keine alternative Welt, sondern setzt uns »vor den produktiven Verbindungsprozess selbst« und bezieht damit den Betrachter »in die vollziehende Mitgestaltung ein«, lässt ihn »sich selbst in seiner Verwicklung« erfahren, so Rabe.

Eine Hommage an das Stratmannsche Œuvre gestaltet Christoph Tannert in seinem sprachspielerischen Essay »Linienerfahrung und Selbstwahrnehmung«, der sich der Serie »Bond« widmet. Diese Arbeiten seien, so der Autor, »maximaler Energieausstoß, Selbstvergeudung bis über den Horizont, stellenweise Tagebuch«, wobei jede Zeichnung »irgendwann ein Irrgarten [gewesen sei], in dem sich Zauber und Zufall begegnen«. Allerdings scheint mir Tannerts – fraglos wichtiger – Hinweis, dass durch Verbindung der Bildtitel ein »melodisch koordiniert[es]« Gedicht entstehe, dem stilistischen Eigenwert dieser Sätze nicht ganz gerecht zu werden. Denn Stratmann hat Funken sprühende, von Spannungen geprägte Wortketten entwickelt, die ihr Sprachmaterial aus unterschiedlichen Lebensbereichen schöpfen, auf originelle Weise Neologismen mit Archaismen verknüpfen und denen bisweilen eine kräftige Prise Ironie beigemischt wurde: »VON LEIDGESCHWÄNGERTER GLÜCKSELIGKEIT UMSCHLUNGENER FETISCH«, »GÜLDEN SCHIEN DER RAUSCH DER KUGELKNACKER, WÄHREND SICH IHRE SKLAVISCH TREU ERGEBENEN LEIBER IN WOHLBEFINDEN AUFLÖSTEN« oder »KOMETENORGIE – IRRSTERN IM FREIEN FALL«.

In dem spannend zu lesenden Aufsatz »Phantom Schmerz Bilder. Die COVER-Serie von Roland Stratmann« fragt Michael Mayer schließlich, »ob die neue Sichtbarkeit des Todes seiner oft beklagten Verdrängung tatsächlich entgegenarbeitet oder sie nicht vielmehr radikalisiert.« Und: Wie sind hierbei die Arbeiten des Stratmannschen »Cover«-Zyklus’ anzusiedeln? Mayer geht – und zeichnet dies im Textverlauf anschaulich nach – von einer Unterwanderung des »fatale[n] Pendelschlags zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Toten, zwischen absoluter Repräsenz und absoluter Apräsenz, zwischen Bild und Bilderlosigkeit« aus. Dergestalt könnten Stratmanns Werke, wie der Autor weiter erklärt, »in dem einzigen, ihnen angemessenen Modus in Erscheinung treten […]: dem des Verschwindens.« Ausgangspunkt der Serie bilden massenmedial verbreitete Aufnahmen von Todesopfern, die von einem Tuch verhüllt werden. Anschließend löst der Künstler das Leichentuch aus dem Bildkontext, zeichnet die Kontur nach. Auf einem separaten Blatt tastet sich seine Feder an die angenommene Körperhaltung heran. Diese Zeichnung wird dem ersten Blatt untergelegt, so dass ein Wechselspiel von ver- und enthüllen entsteht. Stratmann konnte damit demonstrieren, so Mayers pointiertes Fazit, wie »Hinsehen, ohne hinsehen zu können, künstlerisch Gestalt annehmen kann.«

Resümee: Mit »Roland Stratmann – Die Linie falten« ist dem Verlag für moderne Kunst ein wunderbarer Band gelungen, der den Leser sowohl durch drei klug geschriebene Beiträge als auch die wunderbaren Werkabbildungen in den Bann zu ziehen versteht. Roland Stratmanns Zeichnungen sind kleine Stromschläge auf unserer Netzhaut, Wege in eine andere Welt, die das Vertraute umstülpen, hinterfragen und den Betrachter zu einem wichtigen Akteur werden lassen. Nicht zu vergessen die leidenschaftliche Liaison von Bild und Text, die den Facettenreichtum dieses Künstlers unterstreicht. Wen wundert es daher, dass ich Ihnen dieses Buch nur zu gerne empfehlen möchte!

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