Buchrezensionen

Sabine Schulze (Hg.): Objekte erzählen Geschichte, Hatje Cantz 2014

Eine Brücke über 4000 Jahre Menschheitsgeschichte schlägt der Sammlungsband des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe. Das geschieht nicht theoretisch, sondern mithilfe von Objekten aus den Kellern und Vitrinen des Museums, die viel zu erzählen haben. Ob und wie das gelingt, weiß Walter Kayser.

»Objekte erzählen Geschichte« im Hamburger MKG, wie das Museum für Kunst und Gewerbe handlich und überschaubar von den stolzen Bürgern der freien Hansestadt genannt wird. Es ist, wollte man es sehr despektierlich sagen, eine dieser typischen überdimensionierten »Rumpelbuden« für Sammelsurium aus aller Herren Länder. Solche historistischen Kästen hat das 19. Jahrhundert in allen Weltstädten, und die deutsche Gründerzeit ganz besonders gern, hervorgebracht, damit sie ein sichtbarer Ausweis ihrer Weltmachtambitionen würden. Andererseits könnte man auch respektvoll das riesige Gebäude am Steintorplatz mit einem dreifach gestaffeltem Adjektiv bedenken: altehrwürdig. Immerhin geht der Grundstock des Museums auf die Initiative der »Patriotischen Gesellschaft« in Hamburg zurück, die 1765 gegründet wurde. Und das ist für Hamburg fast schon so alt wie Methusalem. Auch mit Superlativen könnte man rasch aufwarten: rund 500 000 Objekte aus 4000 Jahren haben sich hier angesammelt. Das lässt sich höchstens vom Britischen Museum toppen. Menschheitsgeschichte satt also, von der Antike über Mittelalter und Renaissance, Barock und Klassizismus bis zur Moderne und Gegenwart!

Doch was hat das mit diesem Buch zu tun? Genau das ist nun die Crux, denn genau das ist schwer herauszufinden. »Objekte erzählen Geschichte« heißt es. Ist es ein Katalog? Wohl kaum. Dazu ist es thematisch nicht eingegrenzt genug, bietet keine eingehend recherchierten Informationen zu dem einzelnen Bestandsstück und ist in jedem Fall auch sachlich zu knapp und zu unpräzise. Ist es also eine exemplarische Betrachtung, die nur ahnen lässt, was noch an nicht gehobenen Schätzen in den Beständen des Magazins schlummert? Auch das nicht. Ist es dann die notdürftige Erläuterung des nicht mehr Sichtbaren, welche die Oberfläche aufdeckt, um den lebendigen, längst vergessenen Weltzusammenhang dahinter aufleuchten zu lassen?

Im Vorwort fragt sich Sabine Schulze, die seit Juni 2008 als Direktorin das Museum für Kunst und Gewerbe leitet und mit der Neueinrichtung der Schausammlungen beschäftigt ist, geradezu bedeutungsschwanger: »Wie sah das Vorleben der Dinge aus, welches Wissen drücken sich aus und welche Visionen? « Und weiter: Man wolle mit diesem Buch die zahlreichen Diskussionen »über die große Erzählung, unter der sich alle uns anvertrauten Objekte« subsumieren ließen, bündeln. Das ist nun angesichts der »Vielstimmigkeit« all der Schenkungen, Vermächtnisse und Stiftungen reich gewordener Kaufleute, die einem ins Haus flattern, nicht eben leicht. Was verbindet all diese Masken und Möbel, Poster und Porzellane, Textilen, Fotos und Musikinstrumente?

»Die große Erzählung« – bei diesem schwer verständlichen Schlüsselwort denkt man natürlich sogleich an Goethe, der den Roman und seine epische Breite mit einem mächtigen Strom verglich, den von allen Seiten Zuflüsse mit Wasser speisen und der deshalb so träg und in großen Mäanderschleifen dahin schleicht. Das Ansinnen des großen Erzählers sei es folglich, nur »nicht ungeduldig zu einem Ziele« zu kommen, sondern »mit Liebe bei jedem Schritte« zu verweilen. Oder ist Thomas Manns »raunender Beschwörer des Imperfekts« gemeint, »dieser weltweite, weltwissende, kündende Geist der Vergangenheitsschöpfung«, der sich nur über das auslassen kann, was ganz gründlich vergangen, sozusagen ganz abgesunken und vom Staub der Vitrinen überpudert ist?

Vermutlich dachten die konzeptuell Verantwortlichen aber weder an Goethe noch an Thomas Mann (schon weil dieser aus Lübeck kam). Gleichwohl griffen sie nach dem hohen Ton: »Was werden wir künftigen Generationen hinterlassen, welche Ideen und Aktivitäten unserer Zeit werden die Nachfahren beeindrucken? « Hand aufs Herz, darüber müsste ein Heer von Gelehrten sich wohl lange Wochen die ergrauten Köpfe zermartern, um dann resigniert festzustellen, dass das ein »weites Feld« bleibt.

Wie stellt sich dieses Ansinnen nun dar? Das Buch ist in zehn Kapitel eingeteilt. Sie beginnen jeweils mit einer Portalseite, welche ein so ins Riesige vergrößertes Detail eines Ausstellungsstücks zeigt, dass es befremdet. Ein Blickfang eben, so wie der Schriftzug, der um 90 Grad in die Senkrechte gekippt wurde. Jedes dieser Kapitel widmet sich in chronologischer Folge einer Phase der Menschheitsentwicklung. Nicht mehr und nicht weniger. Die Überschriften sind auch in ihrer Metaphorik gewaltig ambitioniert; das, was davon eingelöst wird, eher bescheiden. Denn zur Eröffnung jedes Menschheitskapitels braucht’s lediglich einen Text von jeweils einer Seite – meist strohtrocken, Abstracts im Handbuchstil, austauschbar und allgemein, Entwicklungslinien in gröbsten Zügen, oftmals platt und dürr.

Dass das Ganze noch am ehesten an jene gelb unterlegten Merkkästchen erinnert, mit denen eine zurückliegende Einheit in Schulbüchern aufs Wesentlichste zusammengedampft ist, wäre ja nicht so schlimm. Wenn dann nur auf den folgenden Seiten eine Entfaltung des Allgemeinen im Konkreten stattfinden würde, ein Exemplifizieren und eine veranschaulichende Verdeutlichung am einzelnen Schaustück! Wenn nur wenigstens annäherungsweise etwas von dem Anspruch eingelöst würde »Objekte erzählen Geschichte«. Epische Erzählung braucht Breite, Entwicklung, liebevolles Verweilen.

Immerhin wehren sich die Kuratoren gegenüber dem schlichtweg falschen Anspruch, ein Museum für angewandte Kunst solle eine »Parade von Meisterwerken« demonstrieren. Recht haben sie, wenn sie auf dem viel weiter gefassten Zeugnischarakter unterschiedlichster Objekte bestehen. Diese seien schließlich (schon wieder so ein schillerndes Wort) Dokumente eines »gestalteten Lebensraums«. Allerdings läge gerade in der »Vielstimmigkeit« der Schaustücke eine Chance, um wirklich zu erzählen, was den Alltag der Menschen prägte, die vor uns lebten. Ihre versunkene Welt mit dem vergessenen Nutzcharakter der Gegenstände, die nicht unbedingt immer von »bleibendem Wert« sein müssen, wäre eine Einladung, tatsächlich ihre Geschichte lebendig werden zu lassen, will sagen: auszubreiten, was nicht erkennbar wird, wenn man sich auf den bloßen Augenschein verlässt. Das wird leider nicht eingelöst. Die Beschreibung der Objekte erschöpft sich ein, zwei Sätzen, die ebenso nichts sagend sind wie die Maße und Materialangaben, die dann (zugestanden unverzichtbar) kläglich folgen. Vielleicht hätte man das alles aber nur leisten können, wenn man noch mehr auf Beispielhaftes reduziert hätte.

Es geht also nicht um die ominöse »große Erzählung« hinter den Dingen, sondern um ein unausgegorenes Konzept und ein nicht eingelöstes Versprechen. Beim Verfasser dieser Zeilen taucht beim Schreiben ein Verdacht auf, der so drängend ist, dass er hier nun doch noch ausgesprochen werden muss: Vermutlich hatte auch das Autorenteam um Sabine Schulze ein Vorbild im Hinterkopf, dem es irgendwie nachzueifern versuchte: das großartige, vor drei Jahren erschienene Buch »Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten« des Museumsdirektors Neil McGregor. Was dem langjährigen Direktor des British Museums hier in wunderbarer Weise gelingt, ist einzigartig: Plötzlich beginnen die unscheinbarsten Gegenstände, an deren Vitrinen der Museumsbesucher unweigerlich achtlos vorbeigegangen wäre, zu sprechen.

Ausdrücklich sei angemerkt: Das Stuttgarter Verlagshaus Hatje Cantz, sicherlich eines der renommiertesten des Landes, trifft nicht die geringste Schuld. Das Buch ist in der Qualität der Abbildungen, in Format, Grafik und Layout und in der ganzen Gestaltung mehr als ansprechend gemacht. Aber was drauf steht, steht leider nicht drin.

Diese Seite teilen

Besuchen Sie uns