Rezensionen

Sebastian Borkhardt: „Der Russe Kandinsky“. Zur Bedeutung der russischen Herkunft Vasiij Kandinskijs für seine Rezeption in Deutschland, 1912-1945. Brill/Böhlau-Verlag

Vasilij Kandinskij (1866–1944) gehört zu den innovativsten und einflussreichsten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Er verließ er seine Heimatstadt Moskau, um in München Malerei zu studieren und schuf dort eine abstrakte Bildsprache, mit der er bei seinem Publikum für reichlich Furore sorgte. Die vorliegende Studie von Sebastian Borkhardt bietet nun erstmals eine systematische Darstellung über die verschiedenen Sichtweisen auf den „Russen“ Kandinskij in Deutschland, analysiert sie in ihren jeweiligen Kontexten und beleuchtet sie in ihrer chronologischen Entwicklung. Eine Rezension von Melanie Obraz.

Cover © Böhlau Verlag
Cover © Böhlau Verlag

Worin liegt eigentlich das Besondere in Kandinskys Arbeiten?
Es sind einerseits die emotional stark auf das Seelische wirkenden exponierten Farben und andererseits die eigenartig filigrane Linienführung. Temperament und Bewegung verschwimmen zwar nicht unbedingt, sondern stehen zueinander in Symbiose. Obwohl Kandinskys Gemälde deutliche Unterschiede in den hier untersuchten Jahren bezeugen, so lässt sich doch eine eindeutige durchgehende Handschrift erkennen. Darin wird auch die besondere Eigenart Kandinskys sichtbar, der vom Autor bewusst als „der Russe Kandinsky“ vorgestellt wird.

Sebastian Borkhardt widmet sich in seiner Untersuchung der russisch geprägten Mentalität Kandinskys und fragt, ob jene Herkunft eine andere Kunst, eine neue Art der Malerei und der Empfindung für Farbe und Form forcierte. Besteht die Kunst Kandinskys also als eine speziell „russische“ Kunst bzw. ist Kandinsky aufgrund seiner russischen Herkunft in anderer Weise bedeutsam als seine Malerkollegen? Zumindest lässt der Untertitel erahnen, dass die Kandinsky-Rezeption in Deutschland einen anderen Verlauf genommen hätte, wenn der Avantgardist nicht russischer Herkunft gewesen wäre.

Sebastian Borkhardt untersucht bzw. richtet in seiner Studie den Blick auf Kandinskys Arbeiten und die Rezeption seiner Werke in der Vorkriegszeit, der Weimarer Republik sowie im Nationalsozialismus. Die Angst um eine Überfremdung der damaligen Kunst in Deutschland ist hier ein Thema, doch steht sie nicht allein im Mittelpunkt, sondern deutet zugleich den Wunsch nach Offenheit, Aufbruch und Wagnis für das Neue an.

Wichtig ist aber, dass sich die hier vorgelegte Untersuchung, auf die wissenschaftliche Rezeption der Kunstwerke Kandinskys bezieht. Es geht also auch um die sogenannten kunstbeflissenen Kritiker. Empfanden auch jene die russische Herkunft als eine spezifische Prägung in den Werken Kandinskys?
Fest steht, dass Kandinskys gefühlsmäßige Bindung an seine Heimat Russland und seine Liebe zum russischen Landleben sich auch in den hier ausgewählten Werken zeigen. Russischer Volkskunst verleiht er mit filigraner wie kräftiger Farbgebung, Ausdruck, und lädt die Werke zusätzlich mit mythischen Aspekten auf.

Foto © Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München
Foto © Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München

Nicht umsonst wurde Kandinsky in der Kunstszene der damaligen Zeit zu den „jungen Wilden“ gezählt. Seine Malerei stand zwischen dem alten und einem sich bahnbrechenden neuen Stil. In seinem Gemälde „Das bunte Leben“ von 1907 stellt er das spezielle Panorama des menschlichen Lebens dar - die von ihm so geliebte, im Hintergrund thronende Kremlstadt ist ein für ihn bezeichnendes Motiv. Später wird er es in „dem Blauen Reiter“ in ähnlicher Vehemenz zum Ausdruck bringen, dass die Farbe eine völlig neue Sichtweise des/der Betrachters:in herausfordert. Denn: Das romantische Farberlebnis wird in Kandinskys Gemälden zu einer wahren Explosion erweitert. Insofern ist es höchst interessant, dass Kandinsky auch Entwürfe für Porzellanmanufakturen schuf und seine Kunst auch auf Tassen und Untertassen überschwappte.
Die Gemälde und damit auch jede Kunstform, in welcher sich Kandinsky betätigte, beweisen seine Loslösung von allem Bekannten und bringen den Aufbruch zur Geltung, der für ihn als Mensch und Künstler gleichermaßen entscheidend war. Es geht in den Bildern Kandinskys nicht nur um das Hinsehen, sondern um das innere Auge, um so den gesamten sinnlich erfahrbaren Bereich einer Kunstempfängnis zu verdeutlichen.
Kandinsky erweist der Kunstwelt eine tiefe Schau in die Seele eines Kunstschaffenden, der sich der Heimat in so liebevoller Hingabe verbunden fühlt. Doch stets werden bei ihm auch neue Bildinhalte sichtbar und seine Malweise unterliegt einem ständigen Wandlungsprozess. Es ist die für ihn so sprichwörtliche Dynamik, die zwischen amorphen und geometrischen Formen oszilliert. Immer wieder thematisiert Kandinsky – in vielfältigen und abgewandelten Formen – seine Sehnsucht nach der Ursprünglichkeit des ländlichen russischen Lebens. Die Ausdrucksmöglichkeiten der Linie ermöglichte schließlich die Loslösung vom Gegenständlichen in seiner Malerei. Das „typisch“ Russische wird ihm dann von außen zugeschrieben. Mag es nun offensichtlich oder doch eher unterschwellig erkennbar sein, er selbst fühlte sich als ein Hin- und Hergerissener zwischen dem europäischen Westen und dem Osten.
Sebastian Borkhardt verschweigt in seiner groß angelegten Studie keineswegs die Verunglimpfungen, denen Kandinsky als sogenannter „Kunstbolschewist“ ausgesetzt war. Befand sich die russische Moderne ohnehin in einer sondierten Situation? Doch die neue Kunst Kandinskys „ist nicht primär 'russisch' im Sinne einer östlichen Primitivität […] zu verstehen, sondern vor allem 'als international'“. So steht auch die „Erste Russische Kunstausstellung 1922“ in Berlin unter barscher Kritik und dem nicht haltbaren Vorurteil, ein typisch Russisches an den Exponaten, zeige sich darin „westliche Vorlieben zu übernehmen“.

Foto © 2018 Artists Rights Society (ARS), New York/ADAGP, Paris
Foto © 2018 Artists Rights Society (ARS), New York/ADAGP, Paris

Die Gegner der Kunst Kandinskys rezipierten seine Werke, indem sie nationale Ressentiments damit verknüpften. Das Neuartige an der Malweise Kandinskys zeigte sich eben auch in der „Absage an das tradierte Bildkonzept“. Negativ für seinen Ruf erwies sich auch der Umstand, dass Kandinsky aufgrund seiner abstrakten Malweise als „Jude“ bezeichnet wurde, wie es der Autor in dem speziellen Exkurs „Kandinsky als Jude“ beweist. Doch begründet Sebastian Borkhardt hier einmal mehr wie unterschiedlich auch diese Tatsache von den kunsthistorischen Kritikern aufgenommen wurde.

Für Kandinskys Oeuvre bestimmend sind aber nicht nur die Anleihen in der „russisch-volkstümlichen“ Symbolik, sondern ebenso die Bezüge zur christlichen und antiken Kunst.
Der Autor weist damit auch eindringlich darauf hin, dass verbreitete Klischees von einer Traditionslosigkeit, Radikalität und Mystik der Russen unreflektiert auf Kandinskys Werke projiziert wurden, um schließlich den nie erklärten und verblendeten Eindruck einer „russischen Seele“ zu etablieren. Borkhardt diskutiert die Vorwürfe eingehend und begründet ihre Unhaltbarkeit, indem er einen Überblick der Vielseitigkeit der Interpretationsmöglichkeiten des Werkes von Kandinsky verdeutlicht. So z.B. mit dem Bild „Alte Stadt“ 1902 oder auch mit dem Thema „Murnau, Landschaft mit Turm“ 1908, ebenso dann in der „Improvisation 28“ aus dem Jahr 1912.


Der/die Leser:in des Buches erhält durch die spannende Analyse also nicht nur einen Einblick in die ohnehin komplexe Kunstwelt Anfang des 20. Jahrhunderts, vielmehr erweitert sich mit Hilfe jener Lektüre – ganz im Sinne Kandinskys - auch die eigene Interpretationsgabe.


Titel: „Der Russe Kandinsky“. Zur Bedeutung der russischen Herkunft Vasilij Kandinskijs für seine Rezeption in Deutschland, 1912-1945
Autor: Sebastian Borkhardt
Verlag: Brill/Böhlau 2021
448 Seiten
ISBN 978-3-412-52075-5

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