Ausstellungsbesprechungen

Sehnsucht Finnland. Skandinavische Meisterwerke um 1900, Gustav-Lübcke-Museum Hamm, bis 20. März 2016

Das Wissen des Durchschnittsdeutschen über Finnland ist gering. Menschenleere Weiten, ausgedehnte Seen und dichte Wälder, Holzverarbeitung und Papierherstellung und natürlich die finnische Sauna gehören zu den abrufbereiten Klischees, wenn der Name Finnland fällt. Bei dem Namen eines der bedeutendsten Architekten und Designer des 20. Jahrhunderts, Alvar Aalto, wird es manchmal schon eng. Und bei den bildenden Künstlern gibt es in den meisten Fällen nur ratloses Achselzucken. Eine Ausstellung in Hamm könnte das ändern, wie Rainer K. Wick zu berichten weiß.

Wer zur Zeit das Gustav Lübcke Museum in Hamm in unmittelbarer Nähe des ICE-Bahnhofs besucht, hat Gelegenheit, sich in einer vorzüglichen Ausstellung einen konzentrierten Überblick über die finnische Malerei der Zeit zwischen 1880 und 1920 zu verschaffen, jener Epoche, die auch als das »Goldene Zeitalter« der finnischen Kunst gilt. Gezeigt werden rund siebzig Gemälde aus einer der größten Privatsammlungen des Landes, der Gösta Serlachius Kunststiftung im mittelfinnischen Mänttä. Den Grundstein der Sammlung legte der vermögende Industrielle Gustav Adolf Serlachius (1830-1901), der als Papierfabrikant reich geworden war und sich auf den Erwerb von Arbeiten der damals bedeutendsten zeitgenössischen Künstler seines Heimatlandes konzentrierte. Sein Neffe Gösta Serlachius (1876-1942) setzte die Sammeltätigkeit fort und gründete eine Kunststiftung, deren Schätze in einem eigenen Museum in der Nähe der Papierfabrik präsentiert werden. Obwohl sich das Serlachius-Museum mit einzelnen Arbeiten regelmäßig am internationalen Leihverkehr beteiligt, ist die Ausleihe größerer Konvolute doch eher die Ausnahme. Insofern ist es besonders verdienstvoll, dass es der jungen Museumsdirektorin Friederike Daugelat gelungen ist, in Hamm einen informativen Querschnitt durch das finnische Kunstschaffen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zeigen zu können. In der Ausstellung sind mehr als dreißig Maler vertreten, unter ihnen so prominente und auch über die Grenzen Finnlands hinaus bekannte Künstler wie Albert Edelfelt, Hugo Simberg, Akseli Gallen-Kallela und Helene Schjerfbeck.

Der Spannungsbogen reicht vom Realismus und Impressionismus über Symbolismus und Jugendstil bis hin zu expressionistischen, kubistischen und sogar – gleichsam avant la lettre – neusachlichen Tendenzen. Das bedeutet, dass die bildsprachlichen Mittel dieser Künstler durchaus zeittypisch waren und internationalen Standards entsprachen, was u.a. aus der Tatsache resultierte, dass sich einige finnische Maler um 1900 in Paris, der unangefochtenen Kunstmetropole jener Zeit, aufhielten oder persönliche Kontakt zu anderen europäischen Künstlerkollegen pflegten. Das spezifisch Finnische lässt sich also in erster Linie nicht an formalen Merkmalen festmachen, sondern an thematischen Besonderheiten. Denn was zum Beispiel im Gewand einer mehr oder minder traditionellen Landschaftsmalerei daherkommt oder etwa im Bereich des Figurativen sich als Szenen aus dem einfachen Landleben darstellt, ist oftmals politisch aufgeladen, zumindest aber in gewisser Hinsicht politisch grundiert. Finnland hatte siebenhundert Jahre unter schwedischer und hundert Jahre unter russischer Fremdherrschaft gestanden und war um 1900 im Begriff, sich als Nation zu begreifen und von fremden Einflüssen zu emanzipieren. Im Zuge der nationalen Selbstfindung fiel auch der Kunst eine identitätsstiftende Rolle zu. So war es kein Zufall, dass die Künstler all das thematisierten, was für sie typisch finnisch war: unberührte Landschaften mit still ruhenden Seen, hohen Himmeln und atmosphärischen Lichtstimmungen, urwüchsige bäuerliche Typen in ihrer alltäglichen Umgebung oder Szenen aus der finnischen Mythologie, niedergeschrieben im Nationalepos »Kalevala«, das Elias Lönrot im 19. Jahrhundert aus mündlich überlieferten Erzählungen kreiert hatte.

Maler dieses Nationalepos war Akseli Gallen-Kallela (1865-1931), die Galionsfigur des sogenannte nationalromantischen Stils um 1900. Ihm ist in der Ausstellung in Hamm eine eigene Abteilung gewidmet, die seine enorme stilistische Bandbreite vom Realismus zum Jugendstil und zum Symbolismus dokumentiert. Besonders eindrucksvoll ist sein Gemälde »Symposion« von 1893/94, das eine Runde von Zechern, alle Mitglieder der avantgardistischen Künstlergruppe »Nuori Suomi« (Junges Finnland), zeigt: angeschnitten am linken Bildrand den Maler selbst, daneben den Musiker Oskar Merikanto und den Dirigenten Robert Kajanus sowie, rechts im Bild, den Komponisten Jean Sibelius, berühmt für seine symphonische Dichtung »Finlandia«, die angesichts der unfreiwilligen Russifizierung Finnlands zur inoffiziellen Nationalhymne des auf Selbständigkeit drängenden Landes avancierte. Dass in diesem Jahr des 150. Geburtstag des Komponisten gedacht wird, sei nur am Rande bemerkt.

Die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen und Urwüchsigen – auch eine Reaktion auf die fortschreitende Industrialisierung und Urbanisierung – zieht sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung in Hamm und findet in unterschiedlichen Formen ihren Ausdruck. Erwähnt sei nur Verner Thomés (1878-1953) impressionistisches Gemälde »Am Strand spielende Jungen« von 1904. Die drei von der Sonne beschienenen nackten, im Sand kauernden und liegenden Knaben zeugen von der um 1900 einflussreichen Lebensreformbewegung, die sich auch in Finnland unter anderem in Gestalt der Freikörperkultur manifestierte. Interessant ist, dass das Programmwerk des deutschen FKK-Pioniers Richard Ungewitter »Die Nacktheit in entwicklungsgeschichtlicher, moralischer und künstlerischer Bedeutung« von 1905 schon zwei Jahre später in einer finnischen Übersetzung erschien. Bedurfte es hier einer elaborierten Begründung des sogenannteb Naturismus, war den Finnen Nacktheit seit eh und je eine kulturelle Selbstverständlichkeit, nämlich in der Sauna, die fester Bestandteil des finnischen Alltags ist. Zwei locker gemalte Bilder von Antti Favén (1882-1948) aus den Jahren 1914 und 1915 bestätigen dies.

Die Ausstellung im soeben umfassend renovierten Gustav Lübcke Museum, einem Bau der bekannten dänischen Architekten Jørgen Bo und Vilhelm Wohlert, die auch das Kunstmuseum Louisiana bei Kopenhagen entworfen haben, zeigt mit einigen exemplarischen Werken, wie sich die finnische Kunst nach 1900 behutsam der Avantgarde öffnete. Alvar Cawén (1886-1935), der sich in Paris noch ablehnend zu Arbeiten von George Braque geäußert hatte – »nur Schund, absonderliche, hässliche, abnormale, idiotische, schmutzige Bilder« - näherte sich bald darauf selbst einer vom Kubismus und Expressionismus inspirierten Malweise an. Und Helene Schjerfbeck (1862-1946), die ihr beeindruckend eigenständiges Œuvre abgeschieden in einer kleinen finnischen Ortschaft, zwei Zugstunden von Helsinki entfernt, entfaltete und heute als die prominenteste Künstlerin des Landes gefeiert wird, gelangte nach naturalistischen Anfängen früh zu einer abstrahierenden Bildsprache, wie ihr maskenhaftes Porträt »Die Skiläuferin« von 1909 deutlich macht.

Die klar gegliederte und übersichtlich gehängte Ausstellung ist unbedingt sehenswert, zeigt sie doch eine kaum bekannte Facette der europäischen Kunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und zielt dabei nicht nur auf ästhetischen Genuss, sondern auch auf beträchtlichen Erkenntnisgewinn. Leider gilt es keinen Katalog, doch ist an der Museumskasse unter dem Titel »Gösta's Pearls« eine kleinformatige Publikation des Serlachius-Museums zum Preis von 11,90 € erhältlich, in der Hauptwerke der finnischen Privatsammlung abgebildet sind.

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