Buchrezensionen

Seiß, Reinhard: Wer baut Wien? Hintergründe und Motive der Stadtentwicklung Wiens seit 1989, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2007.

Reinhard Seiß ist sicherlich ein recht unbequemer Kritiker. Der streitbare Architekturpublizist, der selbst Raumplanung und Raumordung an der Technischen Universität Wien studierte, hat sich auf ein ausgesprochen heikles Terrain begeben und den Sünden in der Wiener Planungspolitik den Kampf angesagt.

Herausgekommen ist dabei ein packend geschriebenes Kompendium an Wiener (-?) Sittengeschichten, ein »Führer in die Katakomben der Planungs- und Baupolitik einer Stadt«, wie Friedrich Achleitner im Vorwort des Buches schreibt.

Kurz, pointiert und mit viel Sachverstand erzählt der Autor vom schlampigen Umgang mit Bauvorschriften, von undurchschaubaren bis unseligen personellen Verflechtungen, von Fehlinvestitionen und von vorauseilenden Kniefällen gegenüber potentiellen Investoren. Er schildert in drastischen Worten und plastischen Tableaus, wie großzügig in den vergangenen Jahren die bestehenden Flächenwidmungspläne umgangen wurden, wie leichtfertig die Stadtgemeinde Wien mancherorts öffentliche Gelder und wertvolle Gründlandressourcen verschleuderte.

Die österreichische Bundeshauptstadt erlebt seit dem Fall des Eisernen Vorhangs von 1989 einen ungeheuren Bauboom. Die neue geopolitische Position – von der einstigen Randlage zu Zeiten des Kalten Krieges quasi über Nacht in das Zentrum eines neuen Europas gerückt – hat auch im Stadtbild ihren Niederschlag gefunden. Die fieberhafte Bautätigkeit schenkte der Stadt unbestritten viele qualitätsvolle Architekturprojekte, hatte jedoch auch zahlreiche Planungsfehler im Gefolge, welche dem Autor den Stoff für seine Auseinandersetzungen liefern. Seiß betont, die guten Beispiele der Stadtentwicklung nicht außer Acht lassen zu wollen, doch sei es für ihn »nicht Sinn und Zweck einer grundlegenden Kritik, generelle Fehlentwicklungen durch einige Best Practices zu relativieren«.

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Der überhitzte Bauboom der vergangenen Dekade hat in Wien, wie so oft in vergleichbaren Fällen, zum Aufkommen einer großflächigen Investorenarchitektur von mittelmäßiger bis schlechter Qualität geführt.– Ein ärgerliches Faktum, aus der Sicht des Autors jedoch bei weitem nicht das Schlimmste. Als Raumplaner richtet er seine Aufmerksamkeit vor allem auf die städtischen Infrastrukturen und kommt dabei zu der ernüchternden Feststellung, dass sich auf diesem Gebiet trotz der massiven Investitionen der letzen Jahre durchaus nicht immer Verbesserungen einstellten.

Im Gegenteil: in vielen der neuen Stadtentwicklungsgebiete hatte man sich im Laufe der Planungsgeschichte schleichend von den sozialen und kulturellen Standards verabschiedet, die man ursprünglich im Raumkonzept integrieren wollte. Doch letzten Endes würde ein schlechter Urbanismus auch wirtschaftlichen Misserfolg bedingen: wenn sich in den neuen Stadterweiterungsgebieten kein urbanes Leben entwickeln möchte, fehle schließlich auch die nötige Attraktivität für einen guten Wirtschaftsstandort.

Eine wesentliche Brisanz des Buches liegt nicht zuletzt darin, dass der Autor Stück für Stück die Mythen des neoliberalen Zeitalters entzaubert. Unbarmherzig zerpflückt er die Sprechblasen-Rhetorik der öffentlichen Statements und Projektbeschreibungen und verweist auf die Kluft zwischen Anspruch und architektonischer Realität.

Der Bogen an ausgewählten Fallgeschichten ist beeindruckend weit gespannt und behandelt einerseits Stadtplanungs- und Stadtbaugeschichte seit 1989 anhand von konkreten Bespielen wie der Donau City, dem Millennium Tower, dem Umbau der denkmalgeschützten Gasometer, der Wienerberger City oder Monte Laa. Andererseits kommt eine Vielzahl von ewig brisanten Themen zur Sprache wie Verkehr, Grünraumplanung, Sozialer Wohnbau, Einkaufszentren oder Büroflächenwachstum und –leerstand.

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Im Sog dieser spannenden Lektüre sollte man sich natürlich vor Augen halten, dass der Diskurs bewusst kontrovers gehalten ist. Seiß will provozieren, um eine neue Debatte über städtebauliche Standards zu entfachen. Er sucht nicht nach »Schuldigen«, sondern skizziert das System einer politischen Unkultur und zieht gegen eine Mentalität der Schlamperei, Willfährigkeit und Gedankenlosigkeit zu Felde, wohl wissend, dass die hohe Kunst der zielgenau-schmerzhaften Architekturpolemik gerade in Wien über eine stolze Tradition verfügt. Doch die Kritik von Seiß entspringt unzweifelhaft der Liebe zum Gegenstand. Kein Fortschrittsgegner ist hier am Wort, sondern ein leidenschaftlicher Vertreter der gelebten Urbanität in ihrem besten Sinne. Sein Anliegen ist die Förderung von städtischer Vielfalt, die heutzutage in der Entwicklung von Großprojekten oftmals zu kurz kommt – wobei diese letztere Feststellung vermutlich nicht nur auf Wien zutrifft.

 

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