Die Kunstgeschichte teilt den überwältigenden Reichtum der italienischen Kunst, der auf uns gekommen ist, traditionell in Kunstlandschaften ein und spricht von „Schulen“, wenn es um regionale Einteilungen geht.
Es macht nachdenklich, dass solche territorialen Bezugsgrößen im Zeitalter einer enthemmten Globalisierung womöglich in Frage gestellt werden könnten. Jeder, der sich mit der Geschichte Italiens zu beschäftigen beginnt, weiß sehr bald, dass dieses Land wie kein zweites von jeher dadurch ausgezeichnet ist, dass es kontinuierlich von einer Vielzahl an parallelen urbanen Kulturen geprägt war. Städtelandschaften und die regionalen Kunststile machen den Reiz und den Reichtum der Kunst ebenso aus wie auf anderem Gebiet etwa die Lebendigkeit des Brauchtums und der Festkultur oder die charakteristische Note von Weinen jeder Region oder die Signatur einer bestimmten Küche. Was die Gegend um Bologna, nimmt man sie mit Parma, Piacenza und Rimini als Emilia zusammen, im Bereich des Kulinarischen zu bieten hat, steht außer Frage und auf einem anderen Blatt; im Reich der Zeichnungen, zumindest der des 16. bis 18. Jahrhunderts, hat dieser Regionalstil eine ähnliche Spitzenposition.
Der ungewöhnlich reichhaltige Bestand an italienischen Zeichnungen, den das Hessische Landesmuseum in Darmstadt besitzt, hat es mit sich gebracht, dass nun der dritte Bestandskatalog an italienischen Handzeichnungen sorgsam aufgearbeitet wurde. Zuvor war das Konvolut der Genueser Schule und zuletzt, allerdings schon 1994, das der Neapolitaner wissenschaftlich publiziert worden. Die mustergültige Edition, die nun Simone Twiehaus im Kehrer-Verlag besorgt hat, bildet zugleich den Anlass für die Ausstellung Wirklichkeit und Himmelsblick“, auf die bereits an anderer Stelle des „Portal Kunstgeschichte“ hingewiesen wurde (siehe Rubrik „Tagesnachrichten“ vom 10.6.05). Die Autorin war durch ihre hervorragende Promotion über den Bologneser Manieristen Dionisio Calvaert für dieses Thema prädestiniert und fand bei der dreijährigen Bearbeitung des nun vorliegenden Buches die Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgesellschaft. Der Aufbau des Buches erfolgt in der bewährten Dreiteilung: zunächst ein einleitender Basisartikel mit gedrängten Informationen zur Provenienz dieser Sammlung und ihrem Stellenwert neben vergleichbaren Sammlungen mit ähnlichen Blättern; dann folgt ein historischer Abriss zur Herausbildung dieser Regionalschule bis ins 18. Jahrhundert. Danach werden die bedeutendsten Blätter (nun alphabetisch geordnet) als ganzseitige Farbabbildungen wiedergegeben, und schließlich gibt es als wichtigsten wissenschaftlichen Block den zweihundertseitigen Katalogteil. Jede Zeichnung wird, in der Größe je nach Qualität abgestuft, abgebildet, und auch auf die Farbtafeln wird dankenswerterweise nochmals durch eine kleine Schwarz-Weiß-Abbildung verwiesen.
Zeichnungen sind nach wie vor oder vielleicht mehr denn je etwas für Kenner, nicht nur, weil sie durch ihr Format und die Nähe zum Betrachter zu einer intimen Zwiesprache einladen. Vieles lässt beim Anblick dieser Bilder immer wieder das Herz höher schlagen: der Entwurfscharakter, das Tastende einer Studie; das Flüchtige, Augenblickhafte und Fragmentarische, welches eingefangen wird und nach Ergänzung durch die eigene Imaginationskraft verlangt; aber auch die Suche nach neuen Ausdrucksformen oder die Entstehung eines späteren Werkes in nuce und jener imaginative Funke, welcher im Stadium der Opusphantasie sich unnachahmlich auf dem Blatt niedergeschlagen hat; nicht zuletzt die Gründlichkeit, mit der der Künstler die Zeichnung als eigenständiges Kunstwerk ausgearbeitet hat.
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Die Darmstädter Sammlung des HLM ragt unter den Kabinetten im deutschen Sprachraum hervor und geht vor allem auf die Sammlertätigkeit des Herzogs Emmerich Joseph von Dalberg zurück. Nachdem ein beträchtlicher Teil über die Estherhazy nach Budapest abgewandert, ist sie in ihrem heutigen Umfang ziemlich genau 200 Jahre alt. Dabei stützte sich der damalige Reichsritter Dalberg nicht etwa auf die Beziehungen seiner Frau, einer gebürtigen Genueserin, sondern auf seine Kontakte als badischer Gesandter in Paris. Fast alle Blätter kommen nämlich aus französischen Quellen und fielen 1812 dem Großherzog von Hessen-Darmstadt, Ludewig I. zu.# Page Separator #
Es ist die Abkehr vom allzu ausgeklügelten, intellektualistischen, eben später als „manieriert“ gebranntmarkten Stil, die sich mit den Carraccis und der von ihnen gegründeten „Accademia dei Desiderosi“ verbindet, später umbenannt in „Accademia degli Incamminati“ (frei übersetzt vielleicht :die „Akademie der Lernbegierigen“ bzw. „Anzuleitenden“). Drei Maximen schälen sich für diese neue Sicht heraus: 1. die genaue Beobachtung der Wirklichkeit, 2. die menschliche Figur als zentrales Thema, geschult durch das Studium am Modell und 3. die strikte Ausrichtung an der Antike, weshalb mit den Carraccis auch der römische Barock eine klassizistische Ausrichtung erhält. Freilich scheint dabei immer wieder das große Vorbild der ausgereiften Renaissancekünstler durch: "Zeichne Antonio, zeichne Antonio, zeichne und verlier\' keine Zeit!", spornte schon Michelangelo seinen Schüler an, der lieber zu Hammer und Meißel gegriffen hätte.# Page Separator #
Die Auswirkungen sind lang zu spüren, durchziehen das Seicento wie auch das 18. Jahrhundert, in welchem nach dem Vorbild der Accademia die S.Luca in Rom 1710 auch in Bologna noch einmal eine „nuova accademia del disegno“ gegründet wird, nach dem päpstlichen Gönner auch „Clementina“ genannt. Was trotz aller ästhetischen Veränderung durch die Jahrhunderte bleibt, ist die genaue Beobachtung der sichtbaren Realität und die Sorgfalt, mit der mit der Feder, mit Rötel, Bleistift oder lavierend gezeichnet wurde.Zeichnungen Bolognas und der Emilia 16. bis 18. Jahrhundert in der Graphischen Sammlung des Hessischen Landesmuseums Darmstadt
Bestandskatalog; bearbeitet von Simone Twiehaus, KEHRER Verlag, Heidelberg 2005
mit 330 Abbildungen, (mit 33 ganzseitig farbigen Abb.), Bibliographie, Index, Konkordanz, Kurzbiographien 264 S., Einband: LEINEN Gebunden, ISBN 3936636508, Preis: 46,00 €