Rezensionen

Simonetta Prosperi Valenti Rodinò (Hg.): Drawings by Carlo Maratti in the collection of the Kunstakademie Düsseldorf at the Kunstpalast / Bestandskatalog. Michael Imhof-Verlag

In Rom, dem Zentrum der damaligen Kunstwelt, stieg der Maler und Zeichner Carlo Maratti (Camerano 1625–1713 Rom) zum unangefochtenen Künstlerfürsten auf. Als der „Raffael seiner Zeit“ gefeiert, fanden seine Werke in Folge bei gut sechs Päpsten, bei hochrangigen Kirchenfürsten, europäischen Potentaten sowie einer unübersehbaren Zahl englischer „Grand-Tour“-Teilnehmer begeisterte Aufnahme. Im vorliegenden Katalog wird der weltweit umfangreichste Bestand der Zeichnungen Carlo Marattis vorgestellt. Eine Rezension von Dietmar Spengler.

Cover © Michael Imhof Verlag
Cover © Michael Imhof Verlag

Zeichnungsforschung verlangt ein großes Maß an Erfahrung, vor allem ein wohltrainiertes Auge. Umso verdienstvoller das Unternehmen, zu dem sich zwei Kunsthistorikerinnen von Format gefunden haben, um den umfangreichen Zeichnungsbestand des römischen Künstlerfürsten Carlo Maratti (Camerano 1625-1713 Rom) in Düsseldorf aufzuarbeiten (Carlo Maratti wird als Hauptvertreter der klassischen Tradition im italienischen Spätbarock gefeiert, der in seiner Malerei disegno und colore vereinigt hat. Als principe der römischen Kunstakademie und als führender Maler mit großem Atelier war er der einflussreichste Maler seiner Zeit.)

Carlo Maratti: Selbstportrait. Schwarze Kreide, weiß gehöht, auf braunem Papier, 278 x 247 mm © Düsseldorf, Kunstpalast, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf KA (FP) 1110
Carlo Maratti: Selbstportrait. Schwarze Kreide, weiß gehöht, auf braunem Papier, 278 x 247 mm © Düsseldorf, Kunstpalast, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf KA (FP) 1110


Sonja Brink, die ehemalige Kustodin der Akademie-Sammlung und Simonetta Prosperi Valenti Rodinò, Professorin an der Università di Roma, Tor Vergata und Spezialistin für Barockzeichnung haben die 560 Blätter (davon 450 Originale) der Düsseldorfer Akademie-Sammlung - Teil der sog. Krahe-Sammlung, die als Leihgabe der Düsseldorfer Kunstakademie in der Graphischen Sammlung des Kunstpalastes verwahrt wird - gesichtet und wissenschaftlich bearbeitet. Diese Zeichnungen stellen den umfangreichsten Bestand des römischen Barockkünstlers dar, größer als die Sammlungen in Madrid und in Windsor Castle. Der Katalog ist für internationales Publikum auf Englisch und Italienisch erschienen.


Eingangs informiert Brink über das Maratti-Konvolut der Akademie-Sammlung, seine Entstehung, Gestalt und Wirkung, sowie die langwierige Entwicklung dieses Bestands-Kataloges. Es wird Auskunft gegeben über die Vorarbeiten von Eckhard Schaar, der in den 1960er Jahren zusammen mit Ann Sutherland Harris die wissenschaftliche Aufarbeitung des Düsseldorfer Maratti-Bestandes sowie der Zeichnungen Andrea Sacchis in einem Band vorstellte. Es folgte die Bearbeitung der Zeichnungsbestände der Krahe-Sammlung sowie Ausstellungs-Kataloge kleinerer Zeichnungsblöcke der römischen Schule. Die 2013/14 in Rom organisierten Symposien zu Ehren Carlo Marattis waren Anlass zur Aufnahme der Forschungen zu einem Bestandskatalog durch Simonetta Prosperi Valenti Rodinò. Dadurch kamen zu den publizierten Erkenntnissen eine Reihe neuer Zusammenhänge und Zuschreibungen zustande, etliche Zuordnungen von Schaar mußten korrigiert und neu verortet werden. Eine Reihe von Zeichnungen lagen bei den unbekannten Blättern und wurde von den Forscherinnen als Maratti erkannt; darunter das früher Sacchi zugeschriebene wunderbare Rötel-Blatt mit den Kopf- und Gliederstudien zur Madonna della Misericordia in Mallorca

Carlo Maratti: Kopf-, Hand und Fußstudien. Rötel, weiß gehöht, auf braunem Papier, 265 x 400 mm © Düsseldorf, Kunstpalast, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf KA (FP) 13892
Carlo Maratti: Kopf-, Hand und Fußstudien. Rötel, weiß gehöht, auf braunem Papier, 265 x 400 mm © Düsseldorf, Kunstpalast, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf KA (FP) 13892


Dass keine begleitende Ausstellung zustande kam, verschuldet wohl das Desinteresse der involvierten Institutionen, die vor allem dem Event-Effekt der Kunst Aufmerksamkeit zollen.
Mit einem Ausflug in die Tradition der Zeichnungsforschung begründet Brink die wissenschaftliche Bearbeitung und Publikation der Zeichnungsbestände über die reine Konservierung der Objekte hinaus. Mit einer Danksagung schließt die Übersicht.
Die ausgezeichnete, prächtig bebilderte Arbeit von Prosperi Valenti Rodinò liefert eine mustergültige Bearbeitung des Düsseldorfer Maratta-Bestandes. Der Katalog ist in sieben Kapitel und einen abschließenden Anhang gegliedert, die aufeinander aufbauend und ergänzend sowie durch knappe Einleitungen in einen zeitlichen Rahmen integriert sind. In der Einführung, die mit dem bombastischen Selbstbildnis Carlo Marattis im Brüsseler Musées des Beaux-Arts eröffnet wird, bietet die Gelehrte einen Überblick zu den Zeichnungen und Blattfolgen Marattis in Düsseldorf und beschreibt neue Verbindungen zu Zeichnungen anderer Bestände bzw. zu vollendeten Werken.


Eine Rückschau in die Geschichte der Düsseldorfer Sammlung und ihrer Provenienzen beleuchtet die Sammelaktivitäten des umtriebigen Malers und Akademiedirektors Lambert Krahe (1712-1790) in Rom und den Verkauf der Zeichnungen an die Bergischen Landstände als Studienmaterial für die Düsseldorfer Kunstakademie. Die aus dem Besitz der Familie Ghezzi erworbenen Zeichnungen sind, wie der Madrider Maratti-Bestand Studienmaterial - Draperien, Aktdarstellungen, Köpfe und Glieder - und nur wenige fertige Kompositionen und Modelli, wie sie in Windsor, im British Museum, im Louvre, u.a.O. präsent sind. Prosperi Valenti Rodinò unterstreicht, dass der Düsseldorfer Maratti-Bestand als ‚Werkstattreste‘ unmittelbar aus dem Atelier des Malers kommt. Als akademischer Künstler hatte Maratti seine Kompositionen eigenhändig durch Skizzen und Studien detailliert vorbereitet. Insofern ermöglicht das Düsseldorfer Konvolut der Forschung, so die Autorin, die rund 65 Jahre seiner künstlerischen Tätigkeit getreulich nachzuvollziehen und sein gesamtes malerisches Schaffen daran zu überprüfen.


Dies setzt die Autorin ins Werk, indem sie anhand der Zeichnungen in akribischer Arbeit die Schaffensphasen des Künstlers herausfiltert. In Zehnjahresschritten von 1644 bis 1710 ordnet sie Zeichenblätter den entsprechenden Gemälden zu. Die bei Schaar unter „Federzeichnungen“ beschriebenen Blätter datiert die Forscherin in die Frühphase der 1640er Jahre. Hier finden sich auch Kompositions-Entwürfe sowie eine großartige Hieronymus-Studie in Rötel und brauner Feder.

Carlo Maratti: Hieronymus-Studie. Rötel und braune Feder auf weißem Papier, 167 x 225 mm © Düsseldorf, Kunstpalast, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf KA (FP) 1356
Carlo Maratti: Hieronymus-Studie. Rötel und braune Feder auf weißem Papier, 167 x 225 mm © Düsseldorf, Kunstpalast, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf KA (FP) 1356


Nur wenige Studien dieser Zeit lassen sich mit Gemälden Marattis verbinden. Bereits in den 1650er Jahren wird Marattis Strich prägnanter, die Kompositionen ausgewogener. Schwarze Kreide kommt hinzu, weisse Höhung erzeugt Plastizität und blaues Papier intensiviert die Röte der Kreide. Es vollzieht sich ein Wandel in Technik und Stil. Durch Aufträge für römische Kirchen in den 1670er Jahren entsteht eine Vielzahl von Zeichnungen. Altar- und Heiligenbilder sind in Düsseldorf durch Figuren- und Detailstudien dokumentiert, die äußerst realitätsgetreu einen reiferen Stil bekunden. Die Forscherin belegt das mit reichlichen Zeichnungs-Suiten. Bemerkenswert ist hier eine der seltenen Kompositionen in brauner Feder der Jesuiten-Märtyrer, furios gezeichnet, Anfang der 1670er Jahre.

Carlo Maratti: Kompositionsskizze mit jesuitischen Märtyrern in der Glorie. Braune Feder, auf weißem Papier, 305 x 242 mm © Düsseldorf, Kunstpalast, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf KA (FP) 1113  
Carlo Maratti: Kompositionsskizze mit jesuitischen Märtyrern in der Glorie. Braune Feder, auf weißem Papier, 305 x 242 mm © Düsseldorf, Kunstpalast, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf KA (FP) 1113  


In den 1680er Jahren bis etwa 1695 entstehen Federskizzen über Rötel, wie die Komposition Apollo und Daphne zum Brüsseler Gemälde. In den letzten zwei Jahrzehnten macht sich das Alter im Schaffen des Malers bemerkbar. Der Strich wird dünner und fahriger, Pentimenti häufen sich in den Studien. In diese Jahre fallen auch die Figuren- und Gewandstudien zum Altarbild Die Taufe Christi aus der Certosa di San Martino (1710), heute im Museo di Capodimonte auch Studien zum Tempel der Tugend (1696ff.), darunter das Selbstporträt „Le Portrait en grand de l’auteur“.

Carlo Maratti: Figurenstudie zur Taufe Christi. Schwarze Kreide, weiß  gehöht, auf blauem Papier, 423 x 283 mm © Düsseldorf, Kunstpalast, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf KA (FP) 8280
Carlo Maratti: Figurenstudie zur Taufe Christi. Schwarze Kreide, weiß  gehöht, auf blauem Papier, 423 x 283 mm © Düsseldorf, Kunstpalast, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf KA (FP) 8280

Den Abschluß des Katalogs bilden die Kapitel „Zeichnungen für Kupferstiche“, hier die malerische Figurenstudie einer knieenden Frau zur Radierung Geburt der Jungfrau Maria, „Zeichnungen für verlorene, unauffindbare oder nicht ausgeführte Werke“, „Zeichnungen, bei denen die Zuschreibung an Maratti nicht akzeptiert wird“, „Kopien und zweifelhafte Zuschreibungen“ und „Zeichnungen von anderen als Marattis Händen“.

Carlo Maratti: Figurenstudie einer knieenden Frau zur Radierung Geburt der Jungfrau Maria. Kohle, weiß gehöht, auf hellbraunem Papier, 411 x 262 mm © Düsseldorf, Kunstpalast, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf KA (FP) 8997r
Carlo Maratti: Figurenstudie einer knieenden Frau zur Radierung Geburt der Jungfrau Maria. Kohle, weiß gehöht, auf hellbraunem Papier, 411 x 262 mm © Düsseldorf, Kunstpalast, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf KA (FP) 8997r

 
Für Carlo Maratta war die Zeichnung vorrangig Mittel zum Zweck. Sein Werkprozess war eine Folge von Skizzen, Entwürfen und Studien. Meisterhaft verstand er es, durch Schraffuren die Plastizität der Figuren herauszuarbeiten und ihre Wirkung durch Höhungen zu steigern.
Fazit: Die Bearbeitung des Düsseldorfer Bestandes Marattis überzeugt durch die gründliche und vielfältige Analyse der Zeichnungen und ihrer Kontextualisierung sowie durch die souveräne Beherrschung der Materialfülle. Erfreulich sind die zahlreichen neue Erkenntnisse, Funde und Zuschreibungen sowie das detaillierte Bild von Marattis disegnatorischem Œuvre. Der anfangs formulierte Anspruch wird damit bestens eingelöst. Auf die weitere Forschung der Kunsthistorikerin, wie der geplante Gemäldekatalog Marattis, darf man sich freuen.


Titel: Drawings by Carlo Maratti (Maratta)
Herausgeber:innen: Simonetta Prosperi Valenti Rodinò, Sonja Brink
Verlag: Michael Imhof
Gebundene Ausgabe: 440 Seiten
ISBN-10 : 373191185X
ISBN-13 : 978-3731911852

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