Ausstellungsbesprechungen

Spurenlese. Zeichnungen und Aquarelle aus drei Jahrhunderten, Hamburger Kunsthalle, bis 4. Dezember 2016

130 Zeichnungen und Aquarelle aus einer reichen süddeutschen Privatsammlung präsentiert in diesem Herbst die Hamburger Kunsthalle. Stefan Diebitz ist durch eine interessante und lehrreiche Ausstellung gewandert.

Ganz korrekt ist der Untertitel der Ausstellung nicht. Immerhin sind es gute dreieinhalb Jahrhunderte oder etwas mehr, aus denen die Zeichnungen stammen, denn der Bogen spannt sich von altmeisterlichen, auffallend detailreichen Zeichnungen aus der beginnenden Neuzeit bis hin zur Mitte des 19. Jahrhunderts und noch darüber hinaus.

Einer der ältesten in Hamburg gezeigten Künstler ist Giorgio Gandini (1489–1535), und auch aus dem 16. und 17. Jahrhundert gibt es etliche Zeichnungen, die von der Internationalität der damaligen Kunst zeugen – größtenteils sind es Arbeiten aus den Niederlanden, aus Frankreich und Italien. Aber das Schwergewicht der Sammlung und entsprechend der Ausstellung liegt doch in der deutschen Kunst der Goethezeit bis hin zur Dresdner Romantik und Ludwig Richter.

Während die Wände der älteren Teile der Ausstellung in einem dunklen Rot gehalten sind, zeigt der Hintergrund der Goethezeit ein klassizistisches, vielleicht sogar direkt blutarmes Blassblau. Und manche Arbeiten dieser Ära finde ich auch wirklich leicht anämisch angehaucht. Der Grund dafür liegt wohl in der seinerzeit geschehenen Wiederentdeckung der Umrisslinie, dem feinen, sogar sehr, sehr feinen Strich, an dem sich der Sammler und Fachmann erfreut, der aber nicht in jedem Fall das volle Leben zur Erscheinung bringt. Diese Feinheit erreichte auch das Aquarell, von denen einige tatsächlich mehr gezeichnete als getuschte Exemplare in der Ausstellung zu sehen sind; vielleicht sind diese leuchtenden Miniaturen, die man schon fast mit der Lupe anschauen möchte, die erstaunlichsten und schönsten Objekte der Ausstellung.

Aus der Goethezeit werden so bekannte und auch wirklich bedeutende Künstler wie der Intimus des großen Meisters, Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751–1829), der Hamburger Philipp Otto Runge (1777–1810) oder der Erz-Nazarener Johann Friedrich Overbeck (1789–1869) ausgestellt. Mit gleich mehreren, in sich sehr verschiedenen Blättern vertreten ist auch Overbecks dank seiner Bibelillustrationen populärer Freund im Geiste, Julius Schnorr von Carolsfeld (1794–1872), der aber anders als der fromme Lübecker nie zum Katholizismus konvertieren mochte.

Es wird wohl immer merkwürdig bleiben, dass Overbeck die Wiener Akademie und ihre Anbetung des Gipses verließ, weil die Studenten nicht draußen malen durften. Denn tatsächlich verließ er später niemals sein Atelier, um im freien Licht zu arbeiten – ganz anders als viele seiner Kollegen, welche die ideale oder auch heroische Landschaft durch die reale ersetzten, die sie vor Ort getreu erfassten. Nicht zuletzt in der Umgebung Roms und Neapels geschah das immer wieder. Für diesen Prozess finden sich in Hamburg schöne Beispiele; die Ausstellung ist aber ausgewogen genug, auch Porträts in reicher Fülle zu zeigen.

Der schon in früher Jugend altväterliche Overbeck, nach dem im heutigen Lübeck eine ausschließlich dem letzten oder sogar allerletzten Schrei in der Kunst gewidmete Kunstgesellschaft benannt ist, scheint uns mit seiner Mittelalterimitation unendlich fern, ferner wohl als viele eigentlich ältere Künstler. Mit einer solchen Einschätzung vergisst man aber nur zu leicht, welche Bedeutung diese Künstler für ihre eigene Gegenwart und sogar für spätere Zeiten besaßen. Maler wie Tischbein oder – ja, er besonders! – Overbeck besaßen eine erstaunliche Anzahl von Schülern, die ihre Art zu malen über die Zeit retteten und wohl auch weiterentwickelten. Der in Hamburg mit etlichen schönen Blättern vertretene Ludwig Richter (1801–1884) ist ebenfalls für die deutsche Kunstgeschichte dank seines jahrzehntelangen Schaffens, aber auch dank seiner vielen Schüler enorm wichtig und besaß einen großen Einfluss über seinen Tod hinaus.

Wichtig für ihre Bedeutung in der Breite war selbstverständlich die Entscheidung der Nazarener für genau die Medien, die hohe Auflagen erlaubten – es ging einem Künstler wie Schnorr von Carolsfeld wesentlich um seinen Einfluss auf die Menge, und so entschied er sich für den Holzstich, der ihm hohe Auflagen erlaubte. Seine 1860 veröffentlichte Bibel war ganz ungemein populär. Als der Berichterstatter viele Jahrzehnte später in seiner Kirchengemeinde einen kleinen Fotowettbewerb gewann, erhielt er statt der innigst erhofften neuen Spiegelreflexkamera eine dieser Bibeln – im modernen Antiquariat mochte das großformatige, auf allerbilligstem Papier gedruckte Werk die erstaunliche Summe von 5 DM gekostet haben.

Andere in dieser Ausstellung vertretene Künstler der Goethezeit sind der sehr jung verstorbene, offenbar extrem talentierte Erwin Speckter (1806–1835), der süddeutsche Meister Wilhelm von Kobell (1766–1853), von dem ein ebenso schönes wie originelles Blatt ein Reiterpaar im Gegenlicht zeigt, oder Johann Christian Reinhart (1761–1847), dessen Selbstbildnis stark an seinen engen (Wander-) Freund Schiller erinnert. Man kann also viele Entdeckungen machen.

Hinrich Sieveking, der Sammler, ist Spross einer alten und angesehenen Hamburger Familie, die schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen gewissen Einfluss auf die Kunstgeschichte ausübte, aber er lebt seit langem in Süddeutschland. Und in genau dieser Weise spreizen sich auch seine Sammlerstücke auf: vieles aus Hamburg, aber auch vieles aus Bayern. Sievekings erstaunliche Fachkenntnisse und seinen unbestechlichen Blick demonstriert eine kleine Anekdote. Der »Entwurf für eine Wandlünette mit plastischem Dekor« von Friedrich Sustris (1540–1599) wurde auf einer Auktion als »Jugendstil Brunnenentwurf« angeboten, und es bedurfte seines Fachwissens, um diesen Fehler zu erkennen und so ein besonders schönes Blatt erwerben zu können.

Hinrich Sieveking ist ein Enthusiast im besten Sinne, also ebenso kenntnisreich wie von seiner Sache begeistert, und es scheinen besonders die feinen, extrem akkuraten Zeichnungen zu sein, an denen sein Herz hängt. Eine andere seiner Leidenschaften ist die Porträtkunst.

Die Ausstellung deckt die Zeichnung in fast allen ihren vielfältigen Erscheinungsformen ab; so ist »Spurenlese« enorm vielseitig und interessant. Der Katalog ist noch nicht erschienen und wird sich, wie man hört, in den Beiträgen von nicht weniger als 36 Autoren besonders der Provenienz der einzelnen Blätter widmen.

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