Buchrezensionen, Rezensionen

Stavros Vlachos: Deformation und Verfremdung. Eine Stiltendenz in der deutschen Kunst um 1500, Verlag Ludwig 2012

Denaturierung und Verfremdung von Menschen wie von Gegenständen in der Kunst zwischen 1500 und 1530 sind das Thema einer materialreichen Dissertation, die nun in Buchform vorliegt. Stefan Diebitz hat die Arbeit für PKG gelesen.

Die frühe Neuzeit war nichts für empfindliche Gemüter. »Der Ton«, schreibt Egon Friedell in seiner »Kulturgeschichte der Neuzeit«, »war überaus roh.« Auf allen Gebieten des täglichen Lebens herrschten maßlose Aggression, Brutalität und Hässlichkeit, und Friedell schreibt über die damaligen Menschen, dass »wenigstens in einem großen Teile von ihnen […] in der Tat etwas Teuflisches« lag. Wahrscheinlich war es nicht zuletzt die bildende Kunst dieser Zeit, die dem Kulturhistoriker diese Sicht vermittelte, denn auf unzähligen Bildwerken erscheinen dort weniger lebendige Menschen als vielmehr bösartige Karikaturen. Das gilt natürlich besonders für Darstellungen der Passion Christi, auf denen die Henkersknechte manchmal kaum noch etwas Menschliches an sich haben, aber auch für zahlreiche andere Bilder. Eben für solche Verzerrungen und Deformationen interessiert sich Stavros Vlachos in seinem Buch.

Die Publikation, ursprünglich eine Regensburger Dissertation, stellt in sechs großen Kapiteln ein Phänomen des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts dar. Es geht Vlachos um forcierte Stilzüge in der bildenden Kunst, also Deformationen der Körper, unrealistisch dargestellte Räume und Gewänder oder auch die falschen Farben der Haut. Karikaturen, wie sie besonders häufig in den Passionsbildern zu finden sind – karikiert werden natürlich die Jesus quälenden Schergen – werden ebenso behandelt wie alle möglichen verfremdenden Effekte. »Eine realistische Darstellung«, schreibt Vlachos, »interessiert in vielen Fällen wenig.«

Ein besonders einprägsames Beispiel für diese Absage an jeden Realismus sind die Darstellungen des Lendentuches von Christus, das gelegentlich so aussieht, als werde es von einem starken Wind – von dem auf dem Bild sonst nichts zu sehen ist – zur Seite geweht. Ein anderes Beispiel gibt uns der Kupferstich eines unbekannten Meisters, auf dem sich der Mantel von Petrus in zwei verschiedene Richtungen bewegt. An diesem Bild, das Vlachos in seiner Einleitung behandelt, findet er noch andere auffällig unrealistische Aspekte: »Zur Verwirrung trägt bei, dass der Künstler auf anatomische Richtigkeit verzichtete. Die rechte Schulter des Apostels ist überhöht, die linke existiert nicht.« Allerdings wird die doch nahe liegende Frage, ob der Künstler vielleicht gar nicht dazu fähig war, anatomisch richtig zu zeichnen, vom Autor weder hier noch sonst im Buch berührt. Aber bereits bei der Anatomie von Menschen, mehr noch bei der perspektivischen Darstellung von Räumen muss man sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts diese Frage ganz unbedingt stellen.

Im Untertitel des Buches wird von einer »Stiltendenz« gesprochen, aber es ist die große Schwäche der Untersuchung, dass sie eigentlich keine Stiltendenz behandelt, sondern allein Personalstile. Die einzelnen Kunstwerke werden in kleinen Schwarzweiß-Abbildungen gezeigt, und jedes einzelne von ihnen wird höchst sorgfältig und sehr kenntnisreich beschrieben und ausgedeutet. Vlachos ist ein gründlicher Kenner der Kunst dieser Zeit, das beweist er auf jeder einzelnen Seite, bei jedem einzelnen Kunstwerk. Seine Grundthese besagt, dass der »Stilwandel um 1500 Ergebnis der individuellen künstlerischen Leistung ist«, nicht Ausdruck der Epoche. Wer aber nicht nach dem Geist der Zeit sucht, der wird ihn auch nicht finden. Für Vlachos gibt es eigentlich gar keine Stiltendenz, sondern allein Personalstile, und so lautet die leitende Frage: »Wie artikulieren sich Deformation und Verfremdung als Charakteristika des Personalstils?«

Das interessanteste Kapitel ist das erste über Darstellungen der Geburt Christi. Es ist schon deshalb so überzeugend, weil es sich ganz auf zwei Ausnahmekünstler konzentriert, auf Albrecht Altdorfer und Hans Baldung Grien. In den Werken beider Maler findet sich eine Art gemalte Lichtmetaphysik, das Jesuskind wird nämlich als ein selbstleuchtendes, im Grunde entmaterialisiertes Lichtwesen dargestellt. Während aber Altdorfer virtuos mit mehreren Lichtquellen operiert, reduziert Baldung Grien die Zahl der Lichtquellen, so dass das Jesuskind zu einer Lichtgestalt und damit selbst zu einer Lichtquelle in tiefer Nacht wird. »Die reine Helligkeit des Kindes, die an Durchsichtigkeit grenzt, ergibt sich aus der gelbweißen Farbgebung und überbietet wohl alle zeitgenössischen Auffassungen des Jesusknaben als Lichtgestalt auch im Œuvre Baldung Griens selbst.«

Diese Form der Darstellung des Kindes wurde entscheidend von einer Vision der schwedischen Nationalheiligen Birgitta beeinflusst, die das von Innen leuchtende Jesuskind auf dem Boden liegend gesehen hatte. Vlachos kann anhand einer Reihe von subtil ausgedeuteten Bildern zeigen, wie die nächtliche Umgebung das Leuchten des Kindes noch einmal zu steigern wusste, wie der Abglanz des göttlichen Kindes auf den Gesichtern der es umstehenden Figuren liegt und wie seine eigene Materialität wie auch die der Dinge dabei verloren geht. Ein Bild der Kreuzigung aus der Hand Matthias Grünewalds (und auch noch andere Werke) arbeitet bei einem anderen Sujet mit ähnlichen Mitteln: »Der Himmel ist dunkel und keine Lichtquellen werden sichtbar, doch sowohl die Figuren als auch die Landschaft dahinter leuchten. Es handelt sich um ein Eigenleuchten, das die Figuren von ihrer Umgebung ausblendet und deren Präsenz ins Irreale steigert.«

Den Kontrast dieser sehr oft wunderbaren und poetischen Bilder zu den Brutalitäten auf Werken anderer Sujets finde ich sehr auffallend. Friedell meinte, dass in dieser von ihm »Inkubationszeit« genannten Epoche der »Zweiseelenmensch« in die Geschichte eintrat, und derart zerrissene Seelen waren offenbar auch die Maler dieser Zeit und deshalb ebenso zu den größten und poetischsten Zartheiten fähig wie zu schrillen, manchmal gar abstoßenden Karikaturen. Ausnahmen allerdings gab es natürlich auch; eine von besonderem Gewicht, auf die Vlachos wegen seiner zahlreichen Innovationen trotzdem immer wieder eingeht, stellt Albrecht Dürer dar, bei dem sich nur gelegentlich deformierende Mittel finden.

In anderen Epochen ist die emotionale Spannweite auf Bildwerken weit geringer. Wäre der Autor auf die Geistes- und Literaturgeschichte mit ihren exzessiven Polemiken in Flugschriften, auf die politischen Kämpfe, auf die wortmächtigen mystischen Visionen, kurz: auf den von Egon Friedell so eloquent beschriebenen Geist der Zeit eingegangen, hätte er ganz unbedingt zu einem anderen Ergebnis kommen müssen: Alles Forcierte, Übertriebene und Extreme entsprach dem Geist der Zeit, und die Entmaterialisierung des Jesuskindes, seine Verwandlung in ein selbstleuchtendes Geistwesen, die Vlachos so schön und sachkundig dargestellt hat, war nur die andere Seite einer exzessiven Darstellung des Hässlichen.

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