Rezensionen

Stella Rollig/Franz Smola (Hg.): Viva Venezia! Die Erfindung Venedigs im 19. Jahrhundert. Belvedere Wien / Buchhandlung Walther & Franz König

Es lebe Venedig! Die Ausstellung im eben erst wiedereröffneten Unteren Belvedere in Wien erzählt von einer Stadt, die sich als Mythos tief in unser kollektives Bewusstsein eingeschrieben hat. Wie so viele Mythen wurde auch die Vorstellung von der Lagunenstadt erst erschaffen – vorangetrieben im 19. Jahrhundert etwa durch Historiker:innen mit der sogenannten leggenda nera; durch Literat:innen und ihre Begeisterung für den morbiden Reiz des Verfalls; und schließlich über Filme wie Sissi oder Tod in Venedig. Christina Wimmer hat sich in den begleitenden Katalog vertieft – »Viva Venezia!«

Cover © Belvedere
Cover © Belvedere

Derzeit zieht die Biennale wieder massenhaft Kunstfreunde in die Lagunenstadt. Wer sich für Venedig zwischen der Französischer Revolution und der ersten Kunstbiennale interessiert, der könnte die aktuelle Ausstellung »Viva Venezia! Die Erfindung Venedigs im 19. Jahrhundert« (17. Februar bis 4. September) im Unteren Belvedere in Wien ansehen bzw. den Katalog dazu lesen. Die Schau zeigt ca. 80 Werke, größtenteils aus eigenem Bestand und von österreichischen und italienischen Maler:innen, denn Venedig gehörte im 19. Jahrhundert einige Jahrzehnte zu Österreich. Es wird auch ein Blick auf den Mythos Venedig in Literatur und Film geworfen. Im Katalog folgen auf das Vorwort der Museumschefin Stella Rollig sechs Essays, die zur einen Hälfte von Mitarbeiter:innen des Museums und zur anderen Hälfte von internationalen Wissenschaftler:innen, die bereits zu Venedig geforscht haben, beigesteuert wurden.

Der Kurator der Ausstellung Franz Smola thematisiert politische Umwälzungen, infrastrukturelle Verbesserungen und Besuche von Maler:innen, Schriftsteller:innen und Komponist:innen.
1797 wurde nach dem Ende der Republik Venedig durch den Einmarsch französischer Truppen die »Napoleonische Volksrepublik Venedig« gegründet, doch schon 1798 bis 1805 folgte die erste österreichische Fremdherrschaft, dann wurde Venetien an das Königreich Italien abgetreten, das von Napoleons Stiefsohn Eugène de Beauharnais regiert wurde. Von 1815 bis 1866 gehörte die Stadt zum österreichischen Königreich Lombardo–Venetien, schließlich fiel sie an das Königreich Italien. Die Revolution 1848/49 hielt sich in Venedig so lange wie nirgends sonst in Italien. Wirtschaftlich bedeutend waren u. a. 1841–46 der Bau einer Eisenbahnbrücke und eines Bahnhofs. Lord Byron prägte mit seiner Dichtung »Childe Harold‘s Pilgrimage« und mehreren Dramen den Topos von Venedig als romantischer Stadt. August von Platen dichtete »Sonette aus Venedig«, Goethe die »Venezianischen Epigramme«. Felix Mendelssohn Bartholdy wurde u. a. zu seinem ersten »Venetianischen Gondellied« angeregt. Mit den berühmten drei Bänden der »Stones of Venice«, 1851 und 1853 erschienen, setzte sich John Ruskin für den Denkmalschutz der verfallenden mittelalterlichen Gebäude der Serenissima ein; schon zuvor, 1835–42 war San Marco renoviert worden. 1856/57 und 1861/62 besuchten Kaiserin Elisabeth und Kaiser Franz Joseph I. die Stadt. Anselm Feuerbach und Richard Wagner starben 1880 bzw. 1883 in Venedig, nachdem sie sich dort öfter und zum Teil länger aufgehalten hatten.

Tiziana Plebani beleuchtet in ihrem Aufsatz dann bedeutende und mutige Venezianerinnen des 19. Jahrhunderts. Einige von ihnen wie etwa die Verlegerin Gioseffa Cornoldi Caminer begrüßten nach der Eroberung seitens der Napoleonischen Truppen die Französische Revolution und forderten Gleichberechtigung. Die ebenfalls emanzipierte Giustina Renier Michiel führte einen Salon in den alten Prokuratien am Markusplatz, der u. a. von Antonio Canova besucht wurde; 1807 kam es zu einer Begegnung mit dem Kaiser der Franzosen, den sie kritisierte. Teresa Perissinotti lernte in Renier Michiels Salon ihren späteren Ehemann Daniele Manin kennen, dessen politische Ansichten sie teilte. Manin war einer der Protagonisten der Revolution von 1848/49, nach deren Scheitern begleitete Teresa ihren Mann ins Exil. Auch die Druckerin Teresa Gattei unterstütze die Revolution durch Flugblätter, später beging sie Selbstmord.
Arnika Groenewald–Schmidt stellt in ihrem Text über internationale Maler:innen in der Lagunenstadt fest, dass die Singularität Venedigs Touristen wie Künstler in ihren Bann zog. Das Bild der Stadt wurde im 18. Jahrhundert durch die Veduten–Maler Canaletto, Bellotto und Guardi nachhaltig geprägt. Die Beliebtheit der Lagunenstadt zahlte sich im weiteren Verlauf für Küntler:innen kommerziell aus. So war William Turner dreimal in Venedig, seine vielen Ansichten fanden viele englische Sammler:innen. Der gebürtige Erfurter Friedrich Nerly lebte ca. 40 Jahre in der Stadt, allein die Piazzetta bei Mondschein malte er 36 Mal. Auch Kopien nach Alten Meistern der venezianischen Malerei waren gefragt, z. B. bei dem bekannten Kunstmäzen Adolf Friedrich Graf von Schack. James Abbott McNeill Whistler reiste 1879 im Auftrag der Londoner Fine Art Society nach Venedig, um Radierungen anzufertigen, und blieb deutlich länger als geplant. John Singer Sargent suchte in seinen ca. 180 Gemälden und Aquarellen auch Motive abseits der Pracht des Canal Grande oder des Markusplatzes. Im Gegensatz dazu hielt sich Pierre–Auguste Renoir 1881 in Venedig auf und malte konventionelle Veduten. Claude Monet orientierte sich bei seinen 1908 geschaffenen Ansichten wiederum an den bereits bekannten Motiven Turners.

Mädchen an einem Fenster zum Markusplatz, Tauben fütternd, cover © Belvedere
Mädchen an einem Fenster zum Markusplatz, Tauben fütternd, cover © Belvedere

David Barnes beschäftigt sich mit europäischen und amerikanische Literat:innen in der Stadt. William Wordsworth beklagte etwa in seiner »Ode to the Extinction of the Venetian Republic« (1802–07) die Einnahme durch Napoleon. Pierre Daru, Napoleons Kriegsminister, dagegen verurteilte die Serenissima als brutalen Polizeistaat mit der »Histoire de la république de Venise« (1819), Lord Byron teilte Darus Ansichten in seinem Theaterstück »Marino Faliero« (1819). In Charlotte Dacres »Zofloya or the Moor« (1806) wird eine venezianische Adelige von ihrem afrikanischen Diener verführt, die Geschichte ist von Rassismus geprägt. Der amerikanische Konsul William Dean Howells schilderte mit »Venetian Life« (1866) das alltägliche Leben, gekennzeichnet von Sympathie für die Venezianer:innen. Bei Henry James‘ »The wings of the dove« (1902) ist die Stadt nostalgisch und verfallend dargestellt, synästhetisch und nationalistisch beschreibt sie Gabriele D’Annunzio in dem Roman »Il fuoco« (1898).

Michele Gottardi widmet sich Kinofilmen, deren Handlung im Venedig des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist. Als erster filmte Alexandre Promio 1896 in der Stadt Dokumentarszenen vom Vaporetto aus, danach wurden viele Mantel–und–Degen–Filme gedreht. Die Handlung von Andrea di Robilants »Canal Grande« (1943) basiert auf einem Streik der Gondolieri gegen die Einführung motorisierter Vaporetti im Jahr 1881. Ernst Marischkas »Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin« von 1957 aus der bekannten »Sissi«–Trilogie endet mit dem erwähnten Besuch des Kaiserpaares 1856/57 in Venedig. »Senso« (1954) von Luchino Visconti spielt zur Zeit des Risorgimento. In »Mayerling« (1968, von Terence Young) wird in zwei Szenen das Treffen von Kronprinz Rudolf und seiner Geliebten Mary Vetsera in Venedig kurz vor ihrem gemeinsamen Selbstmord gezeigt. Drei Jahre später entstand die besonders bekannte Verfilmung »Tod in Venedig« von Thomas Manns Novelle durch Visconti.

Kuratorin Sabine Grabner untersucht in ihrem Katalogbeitrag die künstlerischen Beziehungen zwischen Venedig und Wien von 1815 bis 1866. Sie geht dabei vom Jahr 1838 aus, als Kaiser Ferdinand I. anlässlich seiner Krönung zum König von Lombardo–Venetien neben Mailand auch Venedig besuchte und Kunstwerke für die Gemäldegalerie im Oberen Belvedere ankaufte. Bereits 1816 hatte Venedig eine Reihe von Kunstwerken nach Wien als Geschenk zur Heirat von Franz I. und Karoline Auguste nach Wien geschickt. Während in der österreichischen Hauptstadt die Genremalerei der Historienmalerei Konkurrenz machte, waren in Italien vor dem Hintergrund des Risorgimento historische Themen beliebt, die einen Bezug zur Gegenwart erlaubten und etwa Ungerechtigkeit anprangerten. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Geschichte des Dogen Francesco Foscari (1373–1457), der seinen Sohn Giacomo verbannte. Der Stoff wurde in der Literatur von Lord Byron, in der Malerei bei Francesco Hayez und Michelangelo Grigoletti und in der Musik von Giuseppe Verdi umgesetzt. Die Wiener Maler Leopold Kupelwieser, Josef Danhauser und Ferdinand Georg Waldmüller reisten nach Venedig, jedoch ohne sich mit einheimischen Künstlern auszutauschen. Friedrich von Amerling allerdings war mit Hayez, Giuseppe Molteni und Giuseppe Canella befreundet und wurde von Natale Schiavoni sogar nachhaltig beeinflusst.

Nachtfahrt in der Lagune, cover © Belvedere
Nachtfahrt in der Lagune, cover © Belvedere

Der von Franz Smola und Arnika Groenewald–Schmidt verfasste Tafelteil ist in drei Themenblöcke gegliedert,  denen jeweils einseitige Einleitungen vorgeschaltet sind. Kurze Texte erläutern einige, aber nicht alle ausgestellten Kunstwerke. Der erste Teil thematisiert Historiengemälde. Michael Kovács bezieht sich mit der »Übergabe des Leichnams des heiligen Markus in Alexandria an die Venezianer« auf den Stadtpatron der Serenissima. Eine Gondelfahrt von Albrecht Dürer und Giovanni Bellini stellte Jacopo d’Andrea dar und erinnert damit an die legendären Besuche des Nürnberger Renaissancekünstlers. Hans Makarts über 10 Meter langes, selten gezeigtes Monumentalgemälde »Venedig huldigt Caterina Cornaro«,  welches auch das Buchcover ziert, ist schon wegen seiner Größe ein Höhepunkt der Ausstellung.
Der deutlich umfangreichere zweite Teil des Bildteils präsentiert dann Veduten, etwa von Jakob, Rudolf und Franz (von) Alt. Besonders stimmungsvolle Nachtansichten stammen von August Theodor Schöfft und Josef Carl Püttner. Giuseppe Cannella der Ältere und Pietro Fragiacomo wählten atmosphärische Ansichten zwischen Tag und Nacht. Auf drei Gemälden ist Chioggia, die kleinere Hafenstadt südlich von Venedig verewigt – eine angenehme Abwechslung neben den bekannten Sehenswürdigkeiten. Fotografien von Carlo Noya, sowohl koloriert als auch in schwarz–weiß, bezeugen das Interesse an touristischen Mitbringseln. Die Malerinnen Leontine von Littrow und Antonietta Brandeis sind ebenfalls vertreten, im Fall von zweitgenannter jedoch vorwiegend mit eher konservativen Werken.
Der letzte Teil enthält Genre– und Straßenszenen. Francesco Hayez zeigt auf dem Gemälde »Die Rache wird beschlossen« zwei attraktive Frauen vor Palästen und einem Kanal. Anton Romako bedient mit Karnevalsszenen und der Darstellung einer Frau, die von einem Fenster aus Tauben auf dem Markusplatz füttert, gängige Klischees. Das Leben der einfachen Bevölkerung, v. a. jenes der Kinder und anderer sentimental verklärende Bilder schufen Ludwig von Beniczky, Heinrich Stohl und Eugen von Blaas. August von Pettenkofen wiederum stellte einen eher düsteren Straßenkampf dar. Cecil van Haanen und Franz Russ d. J. bildeten Genreszenen in nicht näher zu bestimmenden venezianischen Kirchen ab.

Franz Smolas historischer Abriss zum Abschluss bietet eine gute Zusammenfassung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ereignisse. Zu bedauern sind einige inhaltliche Überschneidungen in den Essays, so werden die Bedeutung Byrons und Ruskins für die Rezeption Venedigs mehrfach erwähnt. Smola und Barnes beurteilen zudem Byrons Haltung zu Venedig gegensätzlich. Die Objekttexte hätten dafür vielleicht ausführlicher ausfallen können. Dennoch birgt der Katalog, besonders die Ausführungen Plebanis und Grabners, für viele Leser:innen sicher neue Erkenntnisse, er fokussiert eine spannende Thematik.


Titel: Viva Venezia! Die Erfindung Venedigs im 19. Jahrhundert Stella Rollig/Franz Smola (Hg.)
Autor:innen: David Barnes, Michele Gottardi, Sabine Grabner, Arnika Groenewald–Schmidt, Tiziana Plebani, Stella Rollig, Franz Smola
Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König 2022 163 Seiten 18,5 x 24,5 cm ISBN: 978–3–903327–27–6 € 29,80

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