Buchrezensionen, Rezensionen

Sybille Ebert-Schifferer: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Beck Verlag München 2009

Am 18. Juli begehen wir den vierhundertsten Todestag Michelangelo Merisis, der sich selbst Caravaggio nannte und bis heute nicht allein durch die außerordentliche malerische Qualität seiner Werke, sondern auch durch deren Drastik fasziniert. Und durch sein Leben. Er galt und gilt wohl noch heute als liederlicher Bube, sogar als Mörder, und die Kritik seiner Gemälde wirft Leben und Werk nur zu gern zusammen. Jetzt erscheinen anlässlich seines Todestages gleich mehrere hochwertige Bücher über ihn, die solche Urteile zurechtrücken können. Stefan Diebitz hat für uns die hervorragende Monografie von Sybille Ebert-Schifferer gelesen.

Person und Werk, so schreibt Wolfgang Hildesheimer in seiner Mozart-Biografie, müssen „eine Partitur von zwei Systemen“ werden, und es ist eben diese Position, die Ebert-Schifferer auch mit Blick auf Caravaggio und sein Werk einnimmt; es ist deshalb Hildesheimer, dem sie das letzte Wort gönnt, nachdem sie sich bereits in der Einleitung auf ihn bezogen hat. Die Verbindung von Biografie und Werk soll gelöst werden, denn sie kann nur in die Irre führen. Die Autorin stellt zwar in diesem Buch Leben und Werk parallel dar, aber sie hat sich sehr stark zurückgenommen, was das Aufsuchen biografischer Aspekte in den Gemälden Caravaggios angeht, und findet es mit Recht ahistorisch, in ihnen nach Zeugnissen seiner sexuellen Orientierung zu suchen oder seine Bilder als religiöse Bekenntnisse zu deuten.

Ebert-Schifferer beruft sich auf das Selbstverständnis des von ihr geleiteten Max-Planck-Instituts für Kunstgeschichte in Rom (Bibliotheca Hertziana), wenn sie sich vornimmt, „alle historisch plausibel erscheinenden Ansätze miteinander zu verbinden und fruchtbar zu machen.“ Eben dieser Methodenpluralismus macht ihr Buch so vielschichtig, undogmatisch und interessant. Als besonders belehrend empfand der Rezensent die Passagen über die Kulturgeschichte des damaligen Rom – wir erfahren, wie es in den Malerwerkstätten aussah, wir lernen, wie Maler mit ihren Auftraggebern oder Modellen umgingen, welche Preise sie verlangen durften und warum es manchmal unangenehm für einen Maler sein konnte, wenn er von der Obrigkeit mit einem Zirkel unter dem Arm auf der Straße erwischt wurde. Ein Zirkel nämlich galt als Waffe.

Giovanni Pietro Bellori (1613 – 1696) als einer der ersten Kunsthistoriker der Geschichte war es, dem Caravaggio seinen zweifelhaften Ruhm verdankt – von Belloris Kritik gehen beide  Anschauungenaus, die über so lange Zeit die Darstellung des großen Malers bestimmten. Zunächst ist es die Vorstellung Caravaggios als eines halbkriminellen, möglicherweise homosexuellen Herumtreibers und Schlägers, sodann sein Ruf als Maler, dessen antiklassizistisches Werk den Vorstellungen Belloris entschieden widersprach. Denn Bellori war ein Vertreter klassischer Kunst, ein Propagandist höfischer Ideale, und so mussten die Gemälde Caravaggios seine Ablehnung provozieren. Paradoxerweise bestimmt eben die moralische Abqualifizierung des Malers wie seine vermeintliche Ablehnung durch die Zeitgenossen die Popularität Caravaggios bis heute. Seine Hochschätzung „beruht weitgehend auf dem Kurzschluß von Belloris Manipulation mit ihrer postromantischen paradoxen Umkehrung, derzufolge seit der im 19. Jahrhundert propagierten Identität von Genie, Kriminalität und Wahnsinn gilt, daß nur der verkannte Bohemien oder der Verbrecher ein genialer Künstler sein könne.“ Aber Caravaggio war beides nicht, so viel steht wohl fest.

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Leben und Werk finden sich in diesem Buch also parallel dargestellt, und die drei Kapitel von Caravaggios Biografie werden nach den Orten seines Lebens und Wirkens benannt: Das erste Kapitel gilt der Lombardei (1571 – 1592), das zweite Rom (1592 – 1606)und das dritte dem Exil (1606 – 1610), denn Caravaggio musste aus Rom fliehen, nachdem er bei einem Streit auf offener Straße seinen Gegner getötet hatte. Es handelte sich dabei um eine offene Auseinandersetzung, bei der auf jeder Seite vier bewaffnete Männer einander gegenüberstanden; man sollte deshalb wohl eher von einem Duell sprechen als von einem Mord. Für Caravaggio war es „eine Frage der Ehre, an der Vendetta an der Seite eines Freundes teilzunehmen.“

Es ist also die Ehre, unter deren Unstern die römischen Jahre Caravaggios standen – er, als ein erfolgreicher Maler, strebte wie seine Zunftgenossen das Leben des Adels an und machte sich dessen Ehrbegriff zu Eigen. Ehre ist ein Begriff, der in unserem Leben seinen absoluten Sinn längst verloren hat und dessen unverhältnismäßig große Bedeutung in der Vergangenheit mit dem Fehlen des Rechtsstaates und dem Mangel an Rechtsbewusstsein zu tun hat. Man klagte nicht vor Gericht, wenn man ein Mann von Ehre war, sondern nahm sich selbst das, was man für sein Recht hielt.

Auch Menschen unserer Zeit leben in verschiedenen Wertesystemen und können diese nicht immer miteinander vereinbaren, aber im Rom Caravaggios waren die Gegensätze viel weiter gespannt: „Hätten wir sichere Kenntnis von den zahlreichen weiteren Porträts, die Caravaggio ausführte, so würden uns Personen anblicken, deren Alltag mit dem, was heute als Kriminalität bezeichnet wird, ebenso verquickt war wie mit den höchsten gesellschaftlichen Kreisen und tiefster Religiösität.“ In seiner letzten Zeit in Rom war die Spannung offenbar auch für einen Caravaggio zu groß, denn er hatte seine Wohnung verloren und lebte, nachdem er von einer Verwundung durch einen Schwerthieb genesen war, im Hause eines Anwalts, für den er die «Madonna dei Palafrenieri» malte. Zu seiner psychischen Verfassung schreibt Ebert-Schifferer, dass er in dieser Phase seines Lebens „außer sich“ war: „Der Kontrast zwischen der Unordnung seines Privatlebens und der Klassizität seiner Werke der Jahre 1605/06 könnte größer nicht sein.“

Aber mit diesem Abschluss seiner Jahre in Rom sind wir weit fortgeschritten im Leben Caravaggios. Ebert-Schifferer erzählt natürlich chronologisch und stellt uns zunächst sowohl das Elternhaus als auch den Lehrmeister Caravaggios vor, Simone Peterzano, ein Tizian-Schüler. Offensichtlich handelte es sich nicht allein um eine sehr teure, sondern auch grundsolide und in jeder Hinsicht anspruchsvolle Ausbildung, ohne die der spätere Erfolg des jungen Malers kaum zu denken ist. Angesichts der für Caravaggio typischen Lichtführung in seiner späteren Zeit beachtet die Autorin diesen Aspekt besonders auch bei der Vorstellung seines Lehrers.

Obwohl Caravaggios frühe Bilder noch nicht den für ihn charakteristischen dunklen Grund zeigen, wurde in dieser Zeit „sein inneres Auge sozusagen prädisponiert“, denn er war von dunklen Bildern umgeben und hat auch später in Rom immer wieder die Formensprache lombardischer Kunst aufgegriffen. Wiederholt wird ihm deshalb ein außerordentliches Bildgedächtnis zugesprochen.

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Eines der wichtigsten Werke dieser frühen Jahre ist die «Reuige Magdalena» von 1594. Die von Werner Busch vorgetragene Beurteilung des Bildes als Dame ohne Unterleib wird von Ebert-Schifferer offenbar nicht geteilt und jedenfalls nicht wiederholt; sie findet lediglich, dass die Beine etwas kurz geraten sind, und konzentriert sich lieber auf die Einordnung des Motivs in den religions- bzw. geistesgeschichtlichen Zusammenhang.
Erst von dieser Zeit an gewann Magdalena als Heilige ein gewisses Ansehen - besonders im damaligen Rom mit seinen vielen Prostituierten und den frommen Bemühungen, die Mädchen von der Straße zu holen, wodurch schon dem bloßen Motiv eine gewisse Bedeutung zukam. „Was ihr geschieht, ist allein durch das flutende Licht angedeutet – der Raum ist nebensächlich und könnte überall sein.“ Haben wir nicht bereits damit den ganzen Caravaggio?

Ein weiteres Thema der frühen Jahre ist Caravaggios Studium der Emotionen, und zwar besonders der nicht-konventionellen Reaktionen, etwa das Erschrecken eines Jungen, als ihn eine Eidechse in den Finger beißt. Diese Thematik wird ihn sein ganzes Malerleben begleiten, und es ist sein Bildern anzusehen, wie aufmerksam er die Menschen beobachtet und wie sehr er um die nuancierte Darstellung ihrer Gefühle gerungen hat.

Immer wieder greift die Autorin auf die Literatur zurück, um mit ihrer Hilfe Gemälde Caravaggios auszudeuten. Es sind aber weniger Erzählungen als vielmehr Epigramme, die hier anzuführen sind, und deshalb stellt sie einen Zusammenhang her zwischen dem poetischen Konzeptualismus und den allegorischen Bildern jener Zeit. Die Dichter „suchten nach der bildhaften, synthetisch-knappen und möglichst geistreichen Form, welche Allegorie und moralische Aussage in der Art eines Emblems miteinander verbinden sollte“, und eben diese anspielungsreiche und vieldeutige Bildaussage findet sich bereits in den frühen, mehr aber noch in den späten Werken dieses Malers. Oft treten sie zusammen mit manieristischen Elementen auf, etwa wenn Caravaggio mit der virtuosen Darstellung von Reflexen und Spiegelungen auf Vasen oder Gläsern prunkt – so zeigt er auf einer Blumenvase das konvexe Spiegelbild der Ateliertür.

Der Rückgriff auf die Literatur bewährt sich auch dort, wo es um sozialgeschichtliche Zusammenhänge geht, etwa um die Darstellung von Vagabunden («Die Falschspieler» von 1594/95). Caravaggio zeigt, wie verschiedene gesellschaftliche Schichten einander begegnen oder besser: aufeinander stoßen – hier zum Schaden eines wohlbehüteten Jünglings, der von den Falschspielern ausgenommen wird.

In einer Rezension kann nicht auf sämtliche Bilder eingegangen werden, die in Ebert-Schifferers Buch besprochen werden, denn sie spricht eigentlich alle erhaltenen Werke an, und der Anhang bietet eine Übersicht über die Werke. Besonders ausführlich werden natürlich die Bilder vorgestellt und besprochen, die der Ausgestaltung der Contarelli-Kapelle in der römischen Kirche San Luigi dei Francesi dienten, denn diese bedeuteten für Caravaggio den endgültigen Durchbruch. Seinen Erfolg hatte er nicht zuletzt dem seitlich einfallenden Licht zu verdanken, das später von den Caravaggisten und sogar von seinen Gegnern und Neidern imitiert werden sollte. Fortan zählte er zur ersten Garde der Maler Roms und konnte entsprechende Preise fordern, die ihm das Leben eines gut situierten Mannes erlaubten.

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Ebenfalls ausführlich thematisiert und ausgedeutet wird «Amor als Sieger» (1601/02). Das Bild eines sehr lasziven Amors provozierte eine von den Zeitgenossen bespöttelte Reaktion durch Giovanni Baglione, «Der Himmlische Amor» (1602). In diesem Gemälde obsiegt der himmlische Amor über den Eros. Aber den Wettbewerb mit Caravaggio konnte Baglione nicht gewinnen, und so wusste er sich später in schriftlicher Form zu rächen, als sein überlegener Konkurrent längst tot war. Zuvor aber gab es einen Prozess, denn Baglione, der die spektakuläre Lichtführung seines verhassten Konkurrenten nachgeahmt hatte, klagte wegen zweier Spottgedichte, die er unter anderem Caravaggio zuschrieb.

In dieser Zeit entstand auch das Porträt der Kurtisane Fillide Mellandroni, die 2006 zur Heldin und Ich-Erzählerin einer Geschichte Ingrid Nolls wird. In dem Taschenbuch «Maler Mörder Mythos» wird dem Leser anlässlich der Düsseldorfer Caravaggio-Ausstellung das zum Klischee geronnene verkommene Malergenie zugemutet, das Caravaggio sicherlich nie gewesen ist.

Die letzten Jahre in Rom zeigen, wie wenig sich Œuvre und Leben decken müssen, denn während sein Leben immer turbulenter, sein Verhalten immer unkontrollierter wurde, wurden Caravaggios Bilder innerlicher und bewegter. Besonders beeindruckend ist das bei «Der ungläubige Thomas» (1603), in dem der mimische und gestische Ausdruck größte Intensität gewinnt, auch deshalb, weil der Maler auf  jegliches Beiwerk verzichtet.

1606 folgte das Exil, als Caravaggio wegen des Duells aus Rom verschwinden musste; er floh zunächst nach Paliano und später nach Neapel und Malta. Aus seiner Zeit in Neapel hebt die Autorin besonders das vielfigurige Gemälde «Die sieben Werke der Barmherzigkeit» (1606) hervor, auf dem der Künstler jeder Figur zwei Funktionen bzw. Bedeutungen zuweist. In Malta, wo er in die Ritterschaft aufgenommen wurde, entstand mit «Die Enthauptung Johannes’ des Täufers» (1608) das größte Bild, das er je malte – heute dürfte es eines von Caravaggios bekanntesten Werken sein, nicht zuletzt des Bildgegenstandes wegen. Als das Gemälde enthüllt wurde, saß der Künstler aber im Gefängnis, weil er an einem Tumult teilgenommen hatte, und wenig später floh er über Sizilien nach Neapel.

Natürlich weiß man nicht eben viel über die seelische Verfassung Caravaggios, und Ebert-Schifferer geht als sehr disziplinierte Autorin über das, worüber man nur spekulieren kann, meist eher wortkarg hinweg. „Seine Selbstdarstellung in der «Auferweckung des Lazarus»“, schreibt sie, „belegt genauso wie seine früheren Bilder, daß er sich als frommer Christ sah, aber nicht unbedingt, daß er sich nunmehr als von Todessehnsucht und Vorahnungen gehetzter Verfolger fühlte, wie nahezu übereinstimmend angenommen wird.“ Vielleicht sind schon diese wenigen Worte zu viel der Psychologie, denn eigentlich können wir an seinen Bildern nur sehen, dass er sich an seinen Auftraggebern orientierte – so zeigt etwa die im Auftrag der Kapuziner gemalte «Anbetung der Hirten» ärmstes Milieu, getreu der asketischen Grundauffassung dieses Ordens. Einen Blick in seine Seele erlaubt dieses Bild deshalb noch nicht.

Den Abschluss des Bandes bildet ein insgesamt sechsundzwanzig Seiten langer Essay über die «Kunstqualitäten» Caravaggios. Ebert-Schifferer diskutiert hier ebenso Grundbegriffe der damaligen Zeit wie auch technische Fragen. In der Fachliteratur besonders umstritten ist die Frage, inwieweit Caravaggio vorgezeichnet hat oder ob er direkt nach Modellen malte. Die Autorin plädiert dafür, „intensive Vorabüberlegungen“ anzunehmen, und es gilt als sicher, dass er immer wieder einen „Abozzo“ vorlegte, eine Vorzeichnung mit Pinsel und Farbe – besonders dann, wenn seine kirchlichen Auftraggeber die Vorstudien vor der endgültigen Ausführung zu genehmigen hatten.

Der Untertitel des Buches wird ganz am Ende mit Blick auf einen Kunsttheoretiker der Zeit erklärt. Emanuele Tesauro fand, dass die Kunst „auf die Schaffung von etwas geistreich Neuem“ zielen sollte, das zum Wundern anleiten sollte. Angestrebt war ein Gleichklang von Konzept, Wunder und Staunen – ein Gleichklang, der uns auch heute noch berühren kann. Sybille Ebert-Schifferer ist ein großartiges Buch über einen großartigen Maler gelungen, das sowohl mit seinem Text als auch mit seinen hochwertigen und großzügigen Abbildungen überzeugen kann.
 

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