Obwohl Tanizaki Jun’ichirō (1886 – 1965) kein Maler, sondern ein in Japan höchst angesehener Erzähler und Romancier war und die Beispiele für seinen kurzen, elegant geschriebenen Essay von 1933 mit Vorliebe dem Theater entlehnt sind, sind seine Ausführungen über Meisterschaft auch für die bildende Kunst von größtem Interesse. Obwohl Tanizaki Europa eigentlich zugewandt war, begegnet uns in seiner Schrift ein völlig fremdes Kunstverständnis, das gerade in seiner Fremdheit außerordentlich anregend ist. Stefan Diebitz hat das Büchlein für PKG gelesen.
Ein für Tanizakis Argumentation zentraler Begriff ist der des »geinnin«, eines Meisters, der über bloßes Virtuosentum weit hinaus ist, obwohl er dank einer umfassenden und äußerst strengen Ausbildung und seines unermüdlich fortgesetzten Lernens und Weiterbildens immer dazu fähig wäre. Aber einem Meister ist Eitelkeit fremd, und er ist nie mit sich zufrieden. Seine Lehrzeit endet niemals. »Meisterschaft, das ist eben diese Patina, die sich bei langjährigem, unermüdlichem Polieren ergibt.« Tanizaki berichtet von der maßlosen Strenge, mit der Schauspieler erzogen wurden – Schauspieler geben das Hauptbeispiel für Meisterschaft – und er schildert ihre Perfektion auf der Bühne ebenso beredt wie ihre erstaunliche, ja geradezu groteske Unbildung in allen anderen Dingen. Man sieht leicht, dass es hier keinerlei Verbindung gibt zu dem europäischen Ideal eines gebildeten, vielleicht gar gelehrten Künstlers, wie wir es seit Leonardo oder Albrecht Dürer kennen und das uns auch heute noch im Bild des Intellektuellen begegnet.
Tanizaki sprach englisch und kannte offensichtlich eine ganze Reihe zeitgenössischer europäischer Autoren, aber wie sehr er sich von seinen westlichen Kollegen unterschied, kann man daran sehen, dass er allen Ernstes Überlegungen anstellte, die auf die Wiederbelebung jahrhundertealter Traditionen abzielen. »Um wieder zum Ausgangspunkt zu gelangen, gilt es deshalb, die entsprechende Wegstrecke in umgekehrter Richtung zu gehen.« Man spürt an diesen Überlegungen, wie anders und vor allem wie viel intensiver das Verhältnis zur Tradition ist.
Von eigentlich noch größerem Interesse ist der Gegensatz zum Genie, zum kreativen Menschen, das in den letzten zweihundert Jahren das Bild des europäischen Künstlers bestimmte.In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde in wirklich zahllosen Schriften (man denke nur an Karl Jaspers) der Zusammenhang von Schizophrenie und Genialität lebhaft diskutiert – ein Zusammenhang, der einem Japaner wohl nie eingefallen wäre. Der Kopf, schreibt Tanizaki, »ist ohne Zweifel wichtig, aber zuallererst kommt es, was man doch sagen mag, auf das ‚Können’, die Meisterschaft an«. Der Begriff der Kunst ist, wie er aus Europa nach Japan drang, klingt ihm »wichtigtuerisch und bedeutungsschwer«. Tanizaki fordert Bescheidenheit und nennt den japanischen Meister »besonnen, vorsichtig, je nach Umständen sogar unterwürfig«. Tamizaki findet es deshalb auch keineswegs schlimm, wenn Künstler weiter unten auf der gesellschaftlichen Leiter eingeordnet werden. Einen noch größeren Gegensatz zu unserem Begriff des Künstlers kann man sich wohl kaum vorstellen.
Dieser Gegensatz tritt auch an der Bedeutung hervor, die Tanizaki dem Lebensethos zuspricht. Er diskutiert das Werk eines japanischen Lyrikers, lobt die künstlerische Reife der Gedichte und merkt an: »Das gelingt nur, wenn man, ohne auf Rang und Namen zu schielen, aus dem Innersten heraus entschlossen ist, sein Leben dem Werk zu widmen.« Im Grunde ist die ganze hier vorgetragene Konzeption des Künstlers eine ethische von größter Strenge, denn weder ein sozialkritischer Impuls noch der Wunsch nach Ruhm oder gar Wohlstand dürfen nach ihr eine Rolle spielen – wesentlich ist allein das Werk, ihm hat sich alles unterzuordnen, und so erscheint der Künstler in vielen Formulierungen eher als ein Mönch, vielleicht gar als ein Bettelmönch.
Leider spielt in diesem Buch die japanische Malerei keine Rolle und kaum einem Leser werden die Namen der angesprochenen Dichter und Schauspieler oder der Epochen und Stilrichtungen etwas sagen (der Übersetzer bietet aber einen detaillierten Kommentar), und die insgesamt neun historischen Fotografien berühmter Schauspieler können uns nur einen leisen Eindruck von der Art des Theaters geben, über das Tanizaki schreibt. Aber die Darstellung eines ganz und gar anderen Kunstverständnisses kann dazu anregen, unsere Vergötterung der Kreativität und die entsprechende Geringschätzung der Tradition oder des künstlerischen Ethos zu überdenken - schon deshalb ist die Lektüre lohnend.
Wer - und solche Leser gibt es gewiss auch noch heute - mit Adornos »Ästhetischer Theorie« im Rücken einem Autor entgegentritt, der es für die höchste Aufgabe der Kunst hält, »die vollendete Schönheit als etwas Unverrückbares« anzusehen, der wird doch eher verständnislos reagieren. Einer meiner Professoren hielt es allen Ernstes für die Aufgabe der Kunst, den »Mangel« darzustellen, Tanizaki dagegen stellt uns den Künstler als Gefangener einer Art religiöser Grundhaltung vor, in seiner Lebensweise asketisch, in seiner ganzen Haltung von Dankbarkeit und Bescheidenheit erfüllt. Im Grunde ist dieses Buch deshalb eine Art moralischer Traktat, seine ganze Haltung ein Gegenentwurf zu Adornos sauertöpfischer Ästhetik.