Wenn im nächsten Jahr zum 70. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges und damit des nationalsozialistischen Regimes begangen wird, wird man auch wieder Fragen der Moral diskutieren. Eine der großen Philosophinnen des 20. Jahrhunderts hat sich aber bereits mit diesen Fragen beschäftigt: Hannah Arendt. Sie beobachtete den Eichmann-Prozess und blickte als Zeitgenossin auf Vernichtungslager und Massendeportationen. Dass dies nicht ohne Folgen für ihr Denken blieb, liegt auf der Hand. Das »Böse« nahm in ihrem Werk eine zentrale Rolle ein. Tanja Balzer macht sich erfolgreich an die Aufgabe, die Entwicklung dieses Begriffs aufzuzeigen, wie Stefanie Handke findet.
Zitiert werden oft Arendts Annahmen zur »Banalität des Bösen«, jedoch scheint vergessen zu werden, dass der sich die Philosophin auch in ihren theoretischen Schriften mit diesem Problem beschäftigt hat. Dass sie dabei eine Entwicklung durchlief, beweist Tanja Balzer mit ihrer Diplomarbeit. Sie setzt sich mit Arendts zentralen Schriften »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«, »Vita activa« oder ihrem Bericht »Eichmann in Jerusalem« auseinander, und stellt zentrale Aussagen über das Böse heraus und setzt sie in einen Kontext. Dabei geht sie zunächst von der conditio humana bei Arendt aus, um dann auf den Grundlagen der Begriffe »Denken», »Handeln« und »Urteilen« aufzubauen. Insbesondere letzteres weist auf die Problematik des Bösen hin, denn für Arendt ist die Neigung, nicht zu urteilen ein Ausdruck der »Banalität des Bösen«.
Balzer kann in ihrer Arbeit drei zentrale Begriffe des Bösen erarbeiten: Das »radikal Böse«, die »Banalität des Bösen« und das »extreme Böse«. Diese markieren zugleich verschiedene Entwicklungsstufen, die die Autorin in jeweils einem Kapitel untersucht. In »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« verwendet Arendt den Begriff des »radikal Bösen«, Vorbild ist dabei Kant. Dessen Grundannahme ist die Anlage zum Guten im Menschen, ebenso wie der gleichzeitige Hang zum Bösen im Sinne einer Neugier auf das Böse. Freien Willens entscheidet sich der Mensch also für das Böse – und dieses selbstverschuldete Böse nennt Kant radikal. Hannah Arendt arbeitet mit diesem Begriff, verwandelt ihn aber in ihrem Sinne. Während er bei Kant aus einem anthropologischen Blickwinkel betrachtet wird, sieht sie ihn als ein Phänomen. Die Autorin zeigt dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Kant und Arendt auf: Sie begreifen beide das Böse nicht als etwas Dämonisches und gehen von der Willensfreiheit und damit der persönlichen Verantwortung des Einzelnen aus. Balzer stellt zudem heraus, dass Arendt über Kants Begriff des radikal Bösen hinausgeht: Sie schließt Sünde und Selbstsucht als Motive aus und weist ihm eine neue Qualität zu. Diese hat drei wesentliche Elemente: die Beherrschbarkeit des Menschen, die Überflüssigmachung des menschlichen Lebens in einem totalen System und ein sogenannter Suprasinn, der auch scheinbar absurden Handlungen Sinn verleiht.
Für einen Aufschrei in der Öffentlichkeit sorgte der 1963 erschienene Bericht »Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen«. Der hier im Titel erwähnte Begriff taucht im Werk selbst nur einmal auf, ist jedoch allgegenwärtig. Balzer entdeckt ihn vor allem in Arendts Bewertung der Person Eichmann und der Art und Weise wie er sich präsentierte. Während zahlreich Medien das Monster, den Mörder in den Mittelpunkt rückten, ging Arendt so weit, ihn als »Hanswurst« zu bezeichnen, als farblos, gedankenlos, ohne Weitblick, ohne Verantwortungsbewusstsein und ohne Urteilskraft. Auf die Idee zur Begrifflichkeit »Banalität des Bösen« brachten sie, so Balzer, zum einen der Philosoph Karl Jaspers, zum anderen ihr Ehemann Heinrich Blücher, der das Böse als Oberflächenphänomen annimmt. Sie konstatiert, dass Arendt ihn eher ironisch, geradezu provokativ benutzt – da stellt sich dem Leser die Frage, ob sie nicht vielleicht sogar die Empörung der Öffentlichkeit forcierte. Die Philosophin jedenfalls erkennt in Adolf Eichmann einen pflichtbewussten, gesetzestreuen, in gewissem Sinne realitätsfernen Mann. Daraus ergeben sich für die Philosophin als Grundkonstanten der Banalität des Bösen tbei Eichmann ein Karrierebewusstsein, das ihn innerhalb der beruflichen Tätigkeit alles opportun Erscheinende tun lässt (während sie ihm jenseits der Karriere Motivlosigkeit attestiert), sowie die mangelnde Fähigkeit, Dinge aus dem Blickwinkel anderer zu betrachten und eine sich daraus ergebende Verantwortungslosigkeit. Die bei ihm beobachtete Form des Bösen, so Balzer, erkennt Arendt als motivlos, geradezu seicht. Das nimmt die Autorin zum Anlass einen Exkurs zu Schopenhauer zu unternehmen. Dessen moralische Triebfedern, deren Hauptmerkmal die Abwesenheit egoistischer Motive ist, verkehren sich bei Eichmann ins Gegenteil. Als »antimoralische Triebfedern« attestierte Arendt bei ihm Egoismus und zum Teil Gehässigkeit oder Übelwollen – jedoch nicht außerhalb des Berufs.
Der dritte große Begriff, den Balzer erarbeitet, ist das »extreme Böse«, das sie in Hannah Arendts Spätwerk entdeckt. Nun distanzierte sich die Philosophin von ihrer ursprünglichen Annahme des radikal Bösen. Stattdessen sieht sie es nun als das »Äußerste«, das keine Wurzeln und zugleich keine Grenzen kennt. Die Entwicklungslinie ist für Balzer eindeutig: Durch den Eindruck des totalitären nationalsozialistischen Systems entwickelte sie, angelehnt an Kant, den Begriff des radikal Bösen, das aus dem Handeln des Menschen erwächst und sich in einem solchen System fast schon verselbstständigt entwickelt und sich vor allem im totalen Herrschaftssystem entwickelt. In der Beschäftigung mit der Person Adolf Eichmann entwickelte sich dieser Begriff weiter zu einer »Banalität des Bösen«, die sich in diesem Mann manifestierte und über »böse« Motive hinauswies hin zu einem reinem Opportunismus. In den 1960er Jahren entwickelte sie in der Rückschau die Idee eines extremen Bösen, das keine Ursache hat, also einfach geschieht, zugleich aber auch keine Grenzen kennt - was der Nationalsozialismus mit seinen Konzentrationslagern hinreichend bewiesen hat. Das »extreme Böse« entsteht aus der Abwesenheit des Guten.
Nachdem sie diese Entwicklungslinie zeichnen konnte, stellte sich offensichtlich für die Autorin die Frage, welche Bedeutung wohl Autorität und Gehorsam für ein solches Böses, das sich vor allem in der NS-Zeit zeigte, haben mochten. In einem abschließenden Exkurs untersucht sie daher verschiedene sozialpsychologische Ansätze, wie das berühmte Milgram-Experiment, bei dem die Versuchsteilnehmer eine fiktive Person »foltern« mussten, oder die Stufentheorie Lawrence Kohlbergs. Sie untermauern das, was Balzer ausgeführt hat: Die Unterordnung unter Autoritäten koppelt sich vom Moralbewusstsein des Individuums ab und kann so zum »Bösen« führen.
Damit rundet sich das Bild, das die Autorin in ihrer Arbeit entwirft. Sie bettet Arendts Begriffe des Bösen in einen sozialpsychologischen Kontext ein und macht deutlich, welchen Einfluss die Theorien der Philosophin auf Forscher und Kollegen hatten. Dies geschieht mittels Selbstzeugnissen Arendts und durch die Untersuchung anderer Autoren. Mehr eine anthropologische denn eine ethische Begründung für das Böse findet sie inder Unterordnung des Einzelnen unter Autoritäten. Sie demonstriert eindrucksvoll, dass der Begriff des Bösen nicht eine ausgearbeitete Konstante in Arendts Werk darstellt, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen kann. Vielmehr verdeutlichen ihre Erläuterungen deutlich, dass bereits im radikal Bösen die Entwicklung hin zum banalen und zum extrem Bösen angelegt ist. Mir als Nicht-Philosophin hat sie damit einen guten und verständlichen Zugang zu einem Thema, mit dem ich mich bisher kaum beschäftigt habe, gegeben.