Rezensionen

Tanja Pirsig-Marshall / Flora Tesch (Hg.): Otto Mueller - Blicke Körper Distanz. LWL-Museum für Kunst und Kultur / Verlag E. A. Seemann Henschel

Das Buch, zugleich ein Katalog zur Ausstellung, wendet sich einem äußerst brisanten Thema zu. Es handelt eingehend von dem Frauenbild des Künstlers Otto Mueller und seine spezifische Umsetzung wie eben die allentscheidende Sichtweise auf die Frau – vor allem auf den Körper der Frau und hier im Besonderen der Rom:nja und Sint:ezze/Sint:izze. Ein Thema also, was an Kontroversität wie Brisanz kaum noch zu übertreffen ist. Nicht zuletzt deshalb widmen Ausstellung wie auch das begleitende Buch dem Frauenbild bei Mueller polarisierende Diskussionspunkte. Wie ist nun Otto Mueller als Künstler und Mann in diesem Kontext zu verorten? Was macht den Expressionisten Mueller, sein Oeuvre so ausgesprochen wichtig, gar überaus attraktiv? Dennoch können sich die sogenannten Geister daran scheiden. Diskussionswürdig, ja geradezu nach einer Auseinandersetzung schreiend – so stellt sich sein Werk dar. Dies verdeutlichen das Buch wie auch die Ausstellung auf eine geradezu richtungsweisende Art. Das diskriminierende „Z…Wort“ ist hier deshalb nicht ausgespart, sondern mit einem schwarzen Balken versehen. Melanie Obraz hat sich Buch und Ausstellung angesehen.

Cover © Blick ins Buch © E. A. Seemann Verlag
Cover © Blick ins Buch © E. A. Seemann Verlag

Als Vorbereitung wird sogleich ein historischer Zeitstrahl geliefert, womit sich ein Kontext zeigt, in welchem die Gemälde entstanden sind und wie jene in heutiger Zeit eine eigene Aura entwickeln, die eben nicht unumstritten sein kann und darf. Gerade deshalb ergibt sich vor allem die Frage, kann eine solche Kunst auch lediglich unvoreingenommen angesehen werden und welche Auswirkungen hätte nun eine solche Sichtweise. Oder kann man diese Kunstwerke ausschließlich mit der Brille der so sehr negativ geprägten Historie sehen. Die Frage wird dahingehend beantwortet, dass es das Wichtigste ist, sich der menschlichen Abgründe, die sich auch mit diesen Werken auftuen, bewusst zu werden. Es ist nicht nur der allenthalben sexistische Aspekt, sondern noch weit darüber hinaus auch der menschenverachtende Fingerzeig, der hier wahrgenommen werden kann.


Im Besonderen widmen sich die Aufsätze von Tanja Pirsig-Marshall, Ann-Catherine Weise und auch die Betrachtungen von Isabel Fischer wie schließlich die kritische Einordnung des Oeuvres durch Valentina Bay und Anna Mirga-Kruszelnicka der Sichtweise einer Diskriminierung der hier dargestellten Menschen. So ist beispielhaft, dass auch die direkte Betroffenheit der heutigen Kunstschaffenden der Rom:nja und sint:ezze/Sint:izze eine Dokumentation erfährt. Verfolgung, Verbrechen und der Holocaust/Shoah sind nicht zu übergehen, womit sich die Schwierigkeit der Einordnung als herausragende Kunst ergibt. Darf Kunst (heute noch) so sein? Das ist die Frage – darf man einen Künstler so noch ausstellen – muss man nicht jene Werke stets in einen Verbund bestimmter Zeitzeugen einbeziehen und zugleich stets eine dementsprechende Diskussion führen. Ausstellung wie Buch geben diesbezüglich eine eindeutige Antwort – JA! So wird auch ein Kapitel „Otto Mueller im Kontext des Deutschen Kolonialismus“ gewidmet.

Blick ins Buch © E. A. Seemann Verlag
Blick ins Buch © E. A. Seemann Verlag


Zentral steht Muellers Frauenbild zur Diskussion und erfährt eine distanzierte Betrachtung. In diesem Kontext zeigt sich der Bezug auf Maler wie Tizian, Giorgione und sogar in direkter Gegenüberstellung der Venus von Lucas Cranach d.Ä. (1532) zur Lucretia (1903) von Otto Mueller. Die Nacktheit der Frau, der Frauenakt war in der Kunst sozusagen schon immer eine Selbstverständlichkeit, wurde nicht distanziert hinterfragt, sondern eher hingenommen und als das Herausragende wie Besondere und damit künstlerisch, vor allem aber ästhetisch Wertvolle angesehen. Fehlte eine kritische Distanz in all den Jahrhunderten? Otto Mueller hat sich kaum bis gar nicht zu seinen Darstellungen der Frau geäußert und so ist es die Aufgabe der Experten:innen wie auch des Publikums höchstselbst eine eigene Sichtweise auf seine Darstellungen zu entwickeln. Dazu wird eine Aussage des Kunsttheoretikers Paul Fechter zitiert. „Otto Muellers Beziehung zu den weiblichen Körpern, die er malte, war frei von jeder Abstraktion, malerisch auf die Erscheinung der Frau als Frau bezogen, die für ihn reines Vitalitätswesen […] aber auch Frau als Körper war. […] Er war kein Spezialist des Sehens [… gestaltete nicht nur das Gesehene, sondern das Gefühlte, das für ihn den Weg zum Sein bedeutete.“


In diesem Zusammenhang wird auch die Expertin Henrike Holsing genannt, die das Frauenbild bei Mueller in der Weise interpretierte, „dass die Frau für ihn in ihrer Essenz ein unzugängliches Wesen blieb, das selbst in der sexuellen Hingabe autonom war.“ Diese Bemerkung ist höchst interessant, deutet sie Mueller doch als einen Menschen, der sich als Mann der Frau nur in größter Distanz sah? Die Frau bei Otto Mueller als ein vom Standpunkt des Mannes nie zu erfassendes geschweige denn erkanntes Wesen? Vielleicht. Auf jeden Fall spielen seine persönlichen Beziehungen zu seinen Partnerinnen eine entscheidende Rolle.
Nicht ohne Grund wird das Buch bereits auf dem Cover mit dem Zusatz Blicke, Körper Distanz versehen – wobei das Wort Körper mit einem Kreis eine zusätzliche Markierung erfährt. Mag darin bereits ein Vorwurf zu sehen sein – die Reduktion auf das schlicht Körperliche? Aber so einfach dürfen Betrachter:innen nicht dem Oeuvre Mullers begegnen. In dieser Hinsicht zeigt das Buch eine Ambivalenz, ja sogar eine Ambiguität, der sich das Publikum nicht entziehen kann. Der Blick ist hier nach vorn gerichtet wie ebenso auch in die rückwärtige Perspektive. Das Cover bietet den Ausschnitt eines Gemäldes von Mueller, welches ein Liebespaar darstellt. („Paar in der Kaschemme“ 1922) Ganz eindeutig wird auch hier die Frau in ihrer Nacktheit bewusst herausgestellt – ganz im Gegensatz zum Mann, der als dunkle und bekleidete Gestalt eher den Hintergrund bildet. Ebenso das Gemälde „Junges Mädchen vor Männerköpfen“ (1928), welches direkt auf den Voyeurismus eingeht und das hier lächelnde Mädchen als Genießende in dieser Situation darstellt – ja zur Schau stellt?

Blick ins Buch © E. A. Seemann Verlag
Blick ins Buch © E. A. Seemann Verlag


Auch Werke Ernst Ludwig Kirchners (1880-1938) wie auch von Erich Heckel (1883-1970), Max Pechstein (1881-1955) und Karl Schmidt-Rottluff (1884-1976) werden thematisiert und bezeugen damit eine sehr ähnliche Sichtweise auf die Frau in der Kunst und ihren Bezug zur Natur. Ist die Frau nur ein Wesen in der Natur und in diesem Sinne auf das was als natürlich gilt reduziert? Fragen über Fragen ereignen sich und werden bewusst angeschnitten, um es aber den Betrachtern:innen zu überlassen, ob es eine Entscheidung überhaupt geben kann. Dennoch ist das Publikum nicht alleingelassen, sondern wird durch die Diskussionen angeleitet, diesbezüglich stets erneuernde Gespräche selbstständig weiter zu führen.
Doch kommen auch Expressivität der Form wie der Farbe als Thema der Kunst Otto Muellers zum Ausdruck, womit die Bilder eine aufgeladene Emotionalität bekunden, die aber aus heutiger Sicht eine Emotionalität hervorrufen, die zwar nicht minder stark ist, aber sich auf einer anderen, weil heute kritischen Ebene befindet. Das Publikum sollte aber miteinbeziehen, dass die Bildnisse auch gegen die enge Sichtweise der wilhelminischen Kaiserzeit gerichtet war. Also von der Seite des expressionistischen Künstlers aus gesehen, ein Aufbegehren gegen Konventionen darstellte. Die Frauen – und Mädchengestalten Muellers sind nicht von ungefähr dem Androgynen verbunden und deuten damit geradewegs auf die Plastiken von Wilhelm Lehmbruck (1881-1919). Weit darüber hinaus werden Tendenzen aufgegriffen, die über das Thema des Menschen in der Natur hinausgehen und in die Psyche und vor allem die eigene Verfasstheit des Seelischen bei Otto Mueller hinweisen.


Doch letztendlich bleibt die Frage offen, inwieweit die Faszination an den Werken Otto Muellers besteht und bestehen darf. Ja, genau auch diese Frage wird zugleich aufgeworfen: Darf man solche Werke noch als Faszinosum sehen? Mit barscher Kritik in dieser Hinsicht wird nicht gespart, um dennoch auch die Wichtigkeit jener Kunst zu sehen, die den Menschen Otto Mueller ebenso zur Darstellung bringen wie seine Modelle, die in diesem Buch ein Gesicht erhalten und nicht nur einen Körper. Darf am Ende noch gesagt werden, dass auch Otto Mueller ihnen ein Gesicht gab und es ihm letztlich nie um eine sexualisierte und/weil exotisch anmutende Darstellung der Frau ging?!


Das Kontroverse dient hier als Brücke zu den Menschen, die sich ihre eigene Sichtweise bilden müssen und deshalb leistet das reich bebilderte Buch (wie auch die Ausstellung) einen wertvollen Beitrag für die Zukunft und das eigene Umgehen mit eben jener Problematik des Ausgrenzens, des Plakatierens und des Missverstehens. Die kritische Aufarbeitung ist damit angestoßen!


Titel: Otto Mueller
Buch 272 S. Mit zahlreichen Abbildungen.
Softcover
Erschienen: 2024
Verlag: Seemann Henschel GmbH.
ISBN 978-3-86502-530-2

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