Ausstellungsbesprechungen

Tanz der Farben. Nijinskys Auge und die Abstraktion. Hamburger Kunsthalle, Hubertus-Wald- Forum vom 19. Mai bis 16. August 2009

Vaslaw Nijinsky (1889-1950), Startänzer der Ballets Russes zwischen den Jahren 1909 und 1913 in Paris, tanzte nicht nur mit atemberaubender Technik, sondern schuf als Choreograf Werke, die dem Tanz wegweisende Impulse mit auf den Weg ins 20. Jahrhundert gaben. Die Entdeckung, dass sich Nijinsky auch im Medium der Zeichnung ausdrückte und dies rein abstrahierend, bedurfte eines Tänzers und Choreografen: John Neumeier sammelte und sammelt bis heute Kunstwerke, Dokumente und Pretiosen aus Leben und Werk Nijinskys, die innerhalb seiner Kunstsammlung zu den Balletts Russes einen Schwerpunkt einnehmen. Die 2006 gegründete »Stiftung John Neumeier« erhielt in ihrem Gründungsjahr schließlich jene Hand- und Tuschezeichnungen aus dem Nachlass Nijinskys, die nun zum Anlass gerieten, den Direktor der Hamburger Kunsthalle auf »Nijinskys künstlerisches Auge« aufmerksam zu machen.

Hubertus Gaßner ergriff die Gelegenheit, um gemeinsam mit Daniel Koep eine Ausstellung über Nijinskys künstlerisch hochambitioniertes Pariser Umfeld der 1910er und 1920er Jahre zu konzipieren, wobei man sich analog Nijinskys Kulturkreises, auf russische respektive slawisch stämmige KünstlerInnen konzentrierte: Vladimir Baranov-Rossiné, Sonia Delaunay-Terk, Alexandra Exter, Léopold Survage und František Kupka bilden jene Riege halb-abstrakt malender Zeitgenossen aus, die eine inhaltliche Verwandtschaft sowohl im Motiv des Kreises zu Nijinskys Zeichnungen als auch in ihrer abstrahierten Formensetzung zur Rhythmik der tänzerischen Bewegung haben.

Es entspringt Nijinskys tragischer Krankheitsgeschichte, dass er mit Eintreten seiner Geisteskrankheit zeichnerisch zu arbeiten beginnt. Ab 1918/19 entstehen Serien von Zeichnungen mit Titeln wie »Maske« oder »Auge«, in denen der ehemalige Tänzer mit freier Hand enorm ruhige und gleichmäßige, stets an der Kreisform orientierte rein geometrische Lineaturen erstellt. Ob zur Konzentration und Beruhigung des eigenen, beunruhigenden Zustandes sei dahin gestellt, jedenfalls geht Nijinsky, »der Körperbewusste«, nicht in die figürliche, sondern bleibt in der abstrakten Darstellung.

Dass der Tanz zur »Motivations- und Inspirationsquelle abstrakter Malerei« wird, »als er sich selbst von den Prinzipien des Handlungsballetts löst« und zum Ende des 19. Jahrhunderts hin eine »nicht-narrative Choreografie« entwickelt, wie Gaßner im Katalogvorwort konstatiert (12), ist in der Ausstellung selbst nicht nachvollziehbar. Zu sehr hat die Ausstellung zwei separierte Ausstellungsthemen generiert: die kunsthistorische Position slawisch stämmiger Avantgardisten der 1910er und 1920er Jahre in Paris auf der einen Seite und die Sammlung mit Werken zu Nijinsky aus dem Bestand der »Stiftung John Neumeier« auf der anderen.

Die Ausstellung hätte gut daran getan, die Ausrichtung auf Nijinsky im Auge behalten zu haben und weniger mit großem Aplomb eine kunsthistorische Linie aufzubauen, in der sich Nijinskys Zeichnungen unter den Werken besagter russischer Avantgardisten verloren ausnehmen. Hätte man umgekehrt Werke der klassischen Moderne gefunden, die sich auf ihn, Nijinsky, beziehen und ihn, Nijinsky, den Tänzer und Choreografen, zum Anlass künstlerischer Schöpfungen genommen haben, wäre man Nijinskys eigenem Anspruch eher entgegen gekommen. Die dabei entstandene Reihe bedeutender Malereien und Plastiken hätte sowohl mehr Erkenntnisgewinn für die kunsthistorische Strecke, auf der sich Nijinsky mitbewegte, erbracht als auch mehr Gewinn für die vergleichende Anschauung des Ausstellungsbesuchers.


Der hingebungsvoll gestaltete Ausstellungskatalog mit geradezu bibliophilem Anspruch und durchweg lesenswerten Textbeiträgen konzentriert sich bezeichnenderweise auf die Hauptwerke der Ausstellung und unterschlägt dabei etwa jene wunderbaren Tuschfederzeichnungen Jean Cocteaus mit ihrem karikaturistischen Habitus aus der Sammlung Neumeier.
Erlebt man in dieser Ausstellung als vorherrschenden Eindruck die besitzergreifende Dramatik der Nijinsky eigenen Tanz- und Lebensweise, ist man ob der akademischen Strenge kunsthistorischer Deutungsabsichten doch ernüchtert. Nimmt man Nijinsky hingegen primär als Zeitgenossen jener russischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts wahr, so tritt die Kongruenz in der Motivwahl überraschend deutlich hervor. Als Inspirationsquelle für die Kunst der Moderne entdeckt diese Ausstellung Nijinsky nicht, gerade deshalb ist Neumeiers Anliegen unbedingt zu unterstützen und zu rufen: Gebt dieser Sammlung ein Museum!

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