Buchrezensionen, Rezensionen

Thomas Erne/Peter Schüz (Hrsg.): Der religiöse Charme der Kunst, Ferdinand Schöningh 2012

Ein jüngst unter dem Titel »Der religiöse Charme der Kunst« erschienener Sammelband befasst sich mit dem Verhältnis von Kunst und Religion heute. Fachleute diverser Disziplinen: Bild- und Kunstwissenschaftler sowie Philosophen und Theologen, kommen zu Wort. Ursula Siepe berichtet über die Haupttendenzen dieser Publikation.

Der in bildtheologischem Zusammenhang innovative Terminus »Charme« war für zwei Tagungen mit dem Thema »Religiöser Charme der Kunst – Ästhetischer Charme der Religion?« gedankenleitend, die 2010 vom EKD-Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart in der Evangelischen Akademie Hofgeismar und am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Marburg ausgetragen wurden. Die Initiative ging aus von Thomas Erne, Direktor des o. g. Marburger Instituts, der die beiden Veranstaltungen leitete und mit Peter Schüz das hier zu besprechende Buch herausgegeben hat. Das verschriftlichte Resultat der Diskussion um den Begriff »Charme« in besagtem Kontext liegt darin in siebzehn Beiträgen vor.

Thomas Ernes These, derzufolge im Ästhetischen zugleich das Religiöse und im Religiösen zugleich das Ästhetische »mitvollzogen« werden kann, versteht man vielleicht am besten, wenn man sie als Abgrenzung gegen Ernes Amtsvorgänger Horst Schwebel ansieht.

In dem damals dominierenden Bewusstsein der prinzipiellen Opposition von Kunst und Religion war Schwebel seit den späten 1960er Jahren das Wagnis eingegangen, zeitgenössische, ihrem Selbstverständnis nach areligiöse Kunst in Kirchenräumen auszustellen. Die Trennung von autonomer Kunst und Religion galt als irreversibel, und die Zusammenführung beider Bereiche zielte keineswegs auf wechselseitige »Verführung«, wie Ernes Begriff »Charme« es möchte, sondern auf erkenntnisentzündende Konfrontation: Aus quasi schockhafter Erfahrung sollte eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit erwachsen – das Risiko, »sich selbst zu verlieren und abzustürzen« (H. Schwebel), eingeschlossen.

Auch für Thomas Erne ist nur autonome Kunst »Kunst«. Und so schließt auch er religiöse Kunst in der Funktion als »Magd der Theologie« aus seinen Betrachtungen aus. Jedoch meint Erne nunmehr, dass die »Ausdrucksformen von Kunst wie Religion immer wieder neu verflüssigt werden« und beider Verhältnis zueinander nicht zwingend zum Konflikt führen müsse. Gegen die »moderne« Ansicht von der absoluten Autonomie des Ästhetischen setzt er – postmodern? – seine Auffassung von der »stressfreien Autonomie« beider Sphären, wodurch die »jeweils andere, ausgeschlossene Haltung« potentiell »co-präsent« sei: das Religiöse in der Kunst und das Ästhetische in der Religion.

Möglich seien die wechselseitigen Inklusionen von Kunst und Religion, weil beide Darstellungsweisen der menschlichen Existenz gleichermaßen in der Transzendenz gründen. Wegen dieser »Familienähnlichkeiten« seien Kunst und Religion je für sich disponiert, in ein »charmantes« Verhältnis zueinander zu treten.

Um nun seine Theorie an einem Kunstwerk zu illustrieren, betrachtet Thomas Erne exemplarisch Gerhard Richters »Seestück (bewölkt)« von 1969. Er begründet seine Sicht, dergemäß es sich bei diesem Ölgemälde um ein »Kunstwerk mit religiösem Charme« handelt, allerdings, indem er auf etwas Kunst-Externes: auf die Verlautbarung des Künstlers, zurückgreift: Die Kunst, so Richters romantizistische und religionsskeptische Position, sei die »einzige Vollzieherin der Religion, das heißt Religion selbst«. Richters Wolkenbild gestalte, so Erne mit Richter, im »Sichtbaren ein Unsichtbares«.

Als katholischer Bildtheologe bezieht Reinhard Hoeps Position und räumt ein, dass im Begriff »Charme« ein innovatives Erkenntnispotenzial liegen könnte. Er wendet jedoch seinen Beitrag von der Erneschen Idee des eher Leichten, des Anmutig-Verführerischen, ins sehr Ernste, wenn er daran erinnert, dass ein Wesenskern christlicher Kunst das Mitleid, die Compassio sei, und exemplifiziert das an den Andachtsbildern des Mittelalters, welche die Leidensgeschichte Jesu unmittelbar bildhaft werden lassen: »Das Bild deutet nicht aus, sondern fordert zur compassio auf. Es ist nicht Explizierung, sondern Intensivierung des Passionsgeschehens: Es zeigt – häufig genug im wörtlichen Sinne – die Wunden Jesu.«

Das Verhältnis von Kunst und Religion fasst Philipp Stoellger als eines der »Interferenz« an sich autonomer Bereiche. Mit Blick auf vermeintlich das »Wort« predigende »Lehrbilder« Cranachs erläutert der Rostocker Bildwissenschaftler, auf welche Weise Cranach die Vordergründigkeit des Bildes subvertiert und hintergründig eine Emanzipation vom Wort gestaltet. Bei der Ambivalenz, die sich so ereignet, handelt es sich eigentlich um eine Bipolarität von kunstwissenschaftlicher und theologischer Anschauung. Die ganze Bildwirklichkeit ist ein »Dazwischen«, so Stoellger, das er allerdings nicht unter den Begriff des »Charmes« subsumieren möchte.

In seinem Beitrag thematisiert Martin Seel die Frage der Transzendenz(en) im Ästhetischen mit dem Ergebnis, dass die Kunst sehr wohl Alltagsüberschreitendes bietet, was jedoch nicht zu dem Fehlschluss führen dürfe, hierin bereits Religiöses zu wähnen. Und Hubert Locher stellt nach einem kunsthistorischen Rückblick die Gegenwartsdiagnose, in unserer »Bildergesellschaft« »brauche« zwar selbst der wortorientierte Protestantismus Kunst, von einem genuinen Näheverhältnis beider Instanzen zueinander könne aber nicht die Rede sein. Die Kunst »brauche« die Kirche allenfalls in deren Funktion als Auftraggeber; oder, wie die Kunstwissenschaftlerin Monika Leisch-Kiesl es wendet: Eigentlich werde das Gespräch über »das Aufeinandertreffen von Kunst und Religion … nur von einer Seite, nämlich jener der Religion, genauer den christlichen Kirchen, mit Engagement … betrieben«.

Wenngleich etwa Klaas Huizing, der auf William Hogarths »Schönheitslinie« (»Line of Beauty and Grace«) anspielt und ähnliche Bewegungsmuster bzw. Bildstrukturen in biblischen Erzählungen entdeckt, dem Erneschen »Charme«-Projekt mit Konzilianz begegnet und Wilhelm Gräb dem Erneschen Verständnis weitgehend folgt, lässt sich dennoch eine konsensuale Zustimmung zum »Charme«-Modell im Buch nicht feststellen. Gleichwohl: Aufsatztitel wie »Religiöse Kunst und säkulare Kultur. Thesen im Anschluss an Hegel und Schleiermacher« (Gunter Scholtz), »Die Sichtbarkeit der Religionen im öffentlichen Raum als Thema der Gegenwartskunst« (Johannes Stückelberger), »Charmelose Kunst. Die Autonomie der Kunst als Selbstbanalisierung?« (Jörg Lauster) bezeugen das debattenfreudige Engagement, das vom Tagungsgegenstand evoziert wurde. Zwei Interviews: eines mit dem berühmten Architekten Peter Zumthor, das andere mit dem Künstler und Kunstprofessor Ben Willikens, sollen die Anschlussfähigkeit des im hier besprochenen Buch unterbreiteten Ansatzes untermauern.

In ihrem Vorwort ziehen die Herausgeber das folgende Fazit: »Der frei zur Verfügung gestellte Begriff des Charmes erwies sich bei nahezu allen Beiträgen als überaus fruchtbar und horizonteröffnend. Mit dem Begriff des Charmes scheint eine Kategorie gefunden zu sein, die im Diskurs zwischen Kunst und Religion ein neues differenziertes Verständnis dieser komplexen Beziehung erlaubt.« Nun ergab aber die Lektüre des Buches durchaus auch – dezenten – Widerspruch gegen die von den Herausgebern unterbreitete These. Dennoch: Nicht zuletzt angesichts auch kritischer Stellungnahmen sind Tagung und Buch in der Tat als »überaus fruchtbar und horizonteröffnend« zu beurteilen.

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