Die Publikation eint die Beiträge von 23 Autorinnen und Autoren, die der renommierten Kunsthistorikerin Lieselotte Saurma in Lehre und Forschung freundschaftlich verbunden sind. Die Festschrift gewährt den Einblick in einen weiten Themenkomplex, der die Erkundungsreise, laut Ulrike Schuster, trotz des sperrigen Buchtitels wert ist.
Der Begriff des Habitus ist möglicherweise nicht jedem Kunsthistoriker auf Anhieb geläufig. Dabei hat ihn kein geringerer als Erwin Panofsky geprägt, der einst einen strukturellen Vergleich zwischen scholastischen Denkschemata und den gotischen Bauprinzipien gezogen hatte. Norbert Elias führte den Terminus in die Soziologie ein. Und schließlich entdeckte ein Dritter, aus der Riege der ganz großen Geisteswissenschaftler im 20. Jahrhundert, dessen Potential – Pierre Bourdieu machte ihn für seine eigene Forschung fruchtbar.
Hinter den abstrakten Definitionen verbirgt sich ein durchaus spannender Sachverhalt: Habitus bezeichnet die Gewohnheiten einer Gruppe im Denken, Fühlen und Handeln, die ihren sichtbaren Ausdruck im Auftreten, dem Lebensstil, in Kleidung und Geschmack finden. Für Bourdieu war dies kein statischer Sachverhalt, sondern ein dynamisches »Erzeugnisprinzip« von Praxisformen, um soziale Prozesse zu beschreiben. Doch er eignet sich auch zur Beschreibung von kunsthistorischen Entwicklungen, ohne auf mystifizierende Erklärungsmodelle wie »Genie«, »Weltanschauung« oder »Zeitgeist« zurückgreifen zu müssen.
Die Anwendung dieses Ansatzes für die Kunstwissenschaften, ist das Anliegen der Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes. Ein Großteil der Beiträge bewegt sich auf dem Terrain der Kunst im Mittelalter und der frühen Neuzeit, doch sind auch Themen aus der neueren Kunstgeschichte vertreten. Im Sinne der Jubilarin beleuchten die Aufsätze ein differenziertes Spannungsfeld im Verhältnis von Kunst und Auftraggeberschaft, sozialen Codes, Benimmregeln und Normbrüchen, sowie den Erscheinungsformen des Habitus in Form und Stil.
In den detaillierten Studien erfährt man viel Wissenswertes. Christoph Winterer zeigt anhand der Ikonographie Karls des Kahlen, dass ein mittelalterliches Bilderprogramm unter bestimmten Umständen die Darstellung eines »tanzenden Königs« erlauben konnte. Ulrich Kuder beschäftigt sich mit den politischen Aussagen von bildnerischen Demutsgesten und Selbstminderungsriten. Mit dem Verweis auf den Kniefall Willi Brandts vor dem Warschauer Mahnmal schlägt er den Bogen zu der medialen Inszenierung politischer Gesten in der Gegenwart.
Walter Berschin wiederum erklärt, warum der Heilige Martin in der Legende von einem hässlichen Kerl in ein stattliches, schönes Mannsbild umgedichtet werden musste. Mit einem besonderen Kleinod kann Margit Krenn aufwarten: ein neu entdecktes Wandmalereifragment im Schloss von Babenhausen zeigt Christus als Fürst an der Tafel.
Kristina Domanski betrachtet die Ausstattung der ersten Schweizer Bilderchroniken und erläutert den Unterschied zwischen »privat« und »amtlich«. Marion Philipp beschäftigt sich mit festlichen Triumphzügen zu Ehren Kaiser Karls V. und den verklausulierten Botschaften, die die Untertanen bei dieser Gelegenheit an ihren Herrscher richteten. Renate Kroos, die ihre Forschungen den Rechnungsbüchern des Regenburger Domkapitels widmet, analysiert den Gebrauch von Textilien und liturgischen Gerätschaften.
Etwas enttäuschend dagegen ist der Beitrag von Madeleine Herren, die in der Überschrift zur Umdeutung des mittelalterlichen Europas in Versailles 1919 ein interessantes Thema verspricht, aber abseits von allgemeinen theoretischen Ausführungen – politisch korrekt – wenig an konkreten Fakten präsentiert. Matthias Unterberger beschäftigt sich mit dem Phänomen von geknickten und gebogenen Säulen an mittelalterlichen Bauten. Er vermutet – höchstwahrscheinlich zu Recht –dass hier nicht einfach nur eine Laune der Künstler sich den Weg bahnte, sondern eine tiefere symbolische Bedeutung zugrunde liegt. Allein, eine detaillierte Ausdeutung bleibt er uns schuldig. Und auch über die sogenannten Masken von Reims hätte man gerne Ausführlicheres erfahren, nachdem Michael Hoff einmal die Neugier am Gegenstand geweckt hat.
Äußerst lesenswert gestaltet sich wiederum der Beitrag von Dietrich Schubert, der allegorischen Aussagen in Bildern und Zeichnungen von Vincent van Gogh nachspürt und dessen berühmtes Gemälde »Ein Paar alte Schuhe« untersucht – eingedenk einer Auseinandersetzung mit Martin Heidegger und der Begründung, warum sich der letztere auf dem Holzweg befindet.