Rezensionen, Buchrezensionen

Ulrike Crespo - Ephemere, Kehrer 2012

Das Blumenmotiv ist seit Menschengedenken ein bekannter Topos in Kunst und Literatur, der im Laufe vieler Epochen und Strömungen stetig variierte. Sei es als christliche Pflanzensymbolik, als Erkennungszeichen einer philosophischen Bewegung oder als Ausdruck einer weltlichen Macht. Der im Kehrer-Verlag erschienene Fotoband »Ephemere« von Ulrike Crespo greift den Jahrhunderte alten Topos wieder auf. Welche neuen Facetten die Auseinandersetzung der Künstlerin mit dem Thema offenlegt, verrät Ihnen Yi-Ji Lu.

Das Thema wird schon im Titel »Ephemere« deutlich. Mit nebeligen Blumen- und Pflanzenfotografien lenkt die Fotokünstlerin Ulrike Crespo den Blick auf das Ephemere (gr. ephēmeros: »für einen Tag«), das Flüchtige und Vergängliche der Welt, das sich der menschlichen Wahrnehmung weder selten auf dem ersten Blick enthüllt, noch dauerhaft im Bewusstsein bleibt.

Der Band enthält 141 Fotografien von Blüten und Farnen, die seltsam unscharf und nebelig wirken – ein Anblick, der dem heutigen Betrachter, verwöhnt durch gestochen scharfe und hochauflösende Aufnahmen, wohl kaum noch vertraut ist. Tatsächlich scheint es, als ob die pflanzlichen Objekte durch Milchglas oder Nebel hindurch abgelichtet worden und dabei nicht immer im Fokus zu stehen scheinen. Das Spiel mit Unschärfe, Fokus und undefinierbaren Hintergründen weckt die Assoziation an Unterwasserszenen, aus denen einzelne Formen und Farben sich mehr erahnen lassen, als deutlich abzeichnen. Es ist eine Fotografie, die sich näher bei der Malerei verortet, als bei dem, was einem in heutigen Hochglanzmagazinen begegnet. Dieses Verfahren setzte Ulrike Crespo, Psychologin und Mäzenin der Crespo-Foundation bereits in dem Bildband »Twilight« ein. Auch dort ging es ihr nicht um eine wirklichkeitsgetreue Abbildung ihrer Motive. Die Landschaften zwischen Tag und Nacht entführen in Traumwelten und wecken mythische und surreale Assoziationen.

So auch in »Ephemere«: Die Blumen wirken zart, kaum noch an der Grenze zum Materiellen, fast schon ein abstrakter Gedanke. Die Fotografien sind der Versuch, die auf Entwicklung und Veränderung fixierte Wahrnehmung des Menschen abzulegen. Es geht darum, die Zwischenstadien der Pflanzenwelt, wie sprießende Knospen und aufgehende Blüten, die nicht mehr Stängel und noch nicht Blüte sind, zu erfassen. Ferner hinterfragen die Aufnahmen die Sinnhaftigkeit menschlicher Kriterien, die nicht so recht auf die Pflanzenwelt zuzutreffen vermögen: Individuum und Masse; Aktivität und Passivität; belebte und unbelebte Welt; Vorhandensein und Präsenz. Überhaupt scheint es die Hybris des Menschen zu sein, die elementaren Prozesse des Lebens für das menschliche Bewusstsein kompatibel umzuformulieren. Denn die Natur ist ein uns unbegreifbares und kaum gedanklich zu fassendes Phänomen, wie die Autorin Cathrin Nielsen in dem sehr poetischen Begleittext schreibt: »Ein überschüssiges Streben, das Erdreich in seinen Besitz zu zwingen, so wie die pflanzliche Welt zusammengebrochene Kulturwelten in Kürze überzieht und unkenntlich macht. Im Gegensatz zum Körper scheint dieser Bewegung das um sich bangende Zentrum zu fehlen, sie entfaltet sich nicht individuell, sondern dividuell: ein ewiges Sich-von-sich-trennen-Können, Wuchern, Sprießen, Sichverschwenden ohne die Grenze des Individuums, die immer zugleich die Grenze des Todes bedeutet und eine dumpfe Trauer um den Ablauf der Zeit.«

»Ephemere« sensibilisiert für die Unzulänglichkeiten menschlicher Naturwahrnehmung. Mit den Fotografien der unwirklich anmutenden Pflanzenobjekte allein lässt sich zunächst wenig anfangen. Erst durch die Lektüre des vorangestellten Essays erklärt sich die ungewöhnliche Darstellungsweise und die dahinter liegende Poesie. Der Fotoband regt zum Nachdenken an, über die Natur und den irdischen Kosmos, aber auch über die Wahrnehmungs- und Ordnungsprozesse des menschlichen Bewusstseins.

Die Ausstattung des Fotobands enttäuscht etwas, denn eine ungünstige Farbgestaltung, schwarzer Text auf lila Papier, und die doch geringe Größe der Fotografien – sie nehmen jeweils nur einen Bruchteil der sonst leeren weißen Seite ein – mindern das Durchblätter-Vergnügen. Sieht man über diese Unstimmigkeiten hinweg, offenbart sich eine ungewöhnliche thematische Auseinandersetzung, die nachdenklich macht und einen fesselt, sofern man gewillt ist, sich auf dieses gedankliche Schwergewicht einzulassen.

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