Das Cover des im Wienand Verlag erschienenen Buches, ziert ein Portrait der deutschen Schauspielerin Lucie Mannheim (1899-1976), die ab 1933 im Exil in London lebte. Charmant hebt Mario Stahl (1908-1975) die Augenpartie ihres Gesichtes hinter einem transparenten Schleier hervor, mit welchem er jenen Effekt einer vieldeutigen Trauer des Antlitzes zum Ausdruck bringt. Die Autorin Ulrike Sheldon bietet mit ihrem Werk Einblick in die Welt eines Künstlers, der bereits aufgrund seiner jüdischen Herkunft Deutschland vor 1933 verließ. Was ist das Herausragende an dieser Biografie und warum ist Mario Stahl eher unbekannt geblieben und steht nicht in einer Reihe mit berühmten Künstlern jener Jahre, die ebenfalls im Exil lebten? Da es „nur wenige schriftliche Zeugnisse zu seinem Leben“ gibt und sich die Quellenlage „sehr ungünstig“ zeigt, hat die Autorin eine großartige Recherche vorgelegt, die sie mit sehr detailreichen fotografischen Portraits dokumentiert, welchen den Künstler Mario Stahl bei der Arbeit und in seinem sozialen Nahraum vorstellen. Melanie Obraz hat ihre Aufmerksamkeit der spannenden Biografie gewidmet.
Bezeichnend wird sogleich in der Einleitung zweimal die Frage gestellt, wer Mario Stahl (eigentlich) war. Mütterlicherseits waren seine Vorfahren Juden, woraufhin sich die Lage nach den Nürnberger Gesetzen für ihn als sogenannten „Mischling 2. Grades“ als lebensbedrohlich gestaltete. 1933 ging er ins Exil, war 25 Jahre alt und ein Künstler, der noch ganz am Anfang seiner künstlerischen Entwicklung stand. Seine Laufbahn fand also unter denkbar ungünstigsten Gegebenheiten statt. Nur sehr wenige Briefe und Berichte aus jener Zeit sind überliefert und so war Ulrike Sheldon auf ihre Recherche und ihre Intuition gleichermaßen verwiesen, um das Wirken des Künstlers zu erschließen.
Aus diesen Gründen basiert das Buch auf vielen Bildern, Fotografien und persönlichen Zeitzeugnissen, die Carl Mario Stahl als Mensch wie als Künstler dem Publikum nahebringen. Sein Vater, Carl Stahl, Architekt und Filmarchitekt, seine Mutter, geborene Gustava Luise Thümmel – Ilse Stahl – zählte zu ihren Vorfahren unter anderem den berühmten Rabbiner Jacob Fränkel.
Interessant sind die vielseitigen künstlerischen Tätigkeiten Mario Stahls, der sich auch als Schauspieler betätigte, so bezeugt in dem Film „Der alte Fritz“ (1928), in dem er neben Otto Gebühr in einer Nebenrolle zu sehen war. Es handelt sich dabei um jenen Otto Gebühr, welcher später auf die "Gottbegnadeten-Liste" der "unverzichtbaren Künstler" des NS-Reiches gesetzt wurde. Einmal mehr wird hiermit die Ambivalenz jener Zeit verdeutlicht, die sich in einer menschenverachtenden Gefahr offenbarte, welche auch in den von Mario Stahl angefertigten Portraitzeichnungen der Yvette Guilbert aus dem Jahr 1931 ihren Ausdruck fanden. Im Exil in Paris besuchte er die Ausstellungen zu Éduard Manet und Pablo Picasso und kommentierte sie zugleich, womit Stahl auch sein Einfühlungsvermögen in die Kunst jener Kunstschaffenden bewies. Ebenso wird hierdurch sein eigener Stil verdeutlicht, der sich zwar inspiriert von jenen Künstlern zeigt, um dennoch die eigene und eigenwillige Begabung zu dokumentieren.
Freiheit war für Mario Stahl etwas dermaßen Entscheidendes, ohne die er weder seine Kunst noch sein Leben hätte gestalten wollen und können. Seiner jüdischen Herkunft stets bewusst, zeichnet sich sein Lebensweg zwischen stetem Neuanfang und dem Nutzen neuer daraus resultierender Möglichkeiten ab. Eine damit verbundene Odyssee durch Europa - die Schweiz, Italien – Cannobio, Positano -, Frankreich, Avignon, Arles, Aix, Nîmes, um schließlich eine gewisse Zeit in Sanary-sur-Mer zu arbeiten - bleibt ihm nicht erspart. Oft erhielt er nur begrenzte Aufenthaltsgenehmigungen und stand zudem unter Bewachung. Mario Stahl nahm seine wechselnden Zufluchtsorte zum Anlass, sich diesen Orten künstlerisch zu nähern. Er legt hier sein Können als Künstler in der Emigration offen und zeigt eine geradezu liebevolle Verbundenheit und ein originäres Verstehen jener Landschaften und Menschen, denen er begegnete. So verweist er mit seinen Arbeiten auch nicht in erster Linie auf eine kritische Distanz, sondern auf eine tief empfundene Verbundenheit und einem von Empathie getragenem Erleben.
Immer wieder auffallend und minutiös gestaltet er seine Portraits als Charakterstudien. Das Wesen des Menschen im Portrait ist seine Spezialität. Darin liegt sein Genie, eine geradezu feinsinnige Beobachtungsgabe, so wie es auch ein von ihm angefertigtes Portraitbild der Schauspielerin Tilla Durieux (1933) veranschaulicht. Mit welch großartiger Intensität die Portraits geschaffen sind verdeutlicht sich daran, dass es scheint, man kenne die dargestellte Person. Jedes seiner Portraits verströmt die Individualität der dargestellten Person. Dies gilt auch für die anonymen Portraits, die vor allem die Situation und die Zustände zu erfassen suchten und eben nicht auf Individualität hin ausgerichtet waren. Von großer Kraft und doch auch mit gewisser Traurigkeit durchsetzt und also ebenso charakterstark, zeichnete Stahl die Natur, so wie es das Bild eines alten Baum im Parc du Luxembourg in Paris offenlegt. Demgegenüber kreiert er mit extravaganter Farbgebung ein Bild des Hafens von Sanary, welcher quasi inszeniert wird, von einer Zartheit und dem Dunst des Meeres überwölbt zu sein scheint, so dass sich ein einzigartiges Naturschauspiel damit kundtut. Immer wieder zeigt er das Meer unter tiefverhangenen Wolken, die eine Melancholie vermitteln, die auf die eigene Lebenserfahrung des Künstlers hinweisen können. Das Meer als ein Ort der Freiheit – ähnlich wie bei Max Beckmann?
Darüber hinaus zeigte sich sein Freiheitsdrang auch in der Weise, dass er sich einen eigenen Künstlerkreis um sich aufbaute und nicht etwa nur auf Verbindungen wartete, die ihm Freunde offerierten. Ohnehin bot der von ihm gewählte Ort Sanary-sur-Mer vielen Exilsuchenden eine neue Heimat und galt als „Hauptstadt der deutschen Literatur“, konnte man hier doch u.a. Erwin Piscator ebenso antreffen wie die Familie Mann oder Bert Brecht.
Besondere Aufmerksamkeit ziehen die sogenannten Fensterbilder auf sich, zumal jene in der Malerei wie der Dichtung so bedeutend waren und sogar für die Veranschaulichung der Hegelschen Philosophie herangezogen wurden, wie René Magrittes Bild „Lob der Dialektik“. Sind es bei Mario Stahl Sehnsüchte und ungelebte Verheißungen, die er in seinen Fensterbildern verarbeitete? Draußen in der Freiheit gibt es das, wofür es sich zu leben lohnt und wofür auch Mario Stahl jede Mühe auf sich nahm. Doch ereilte ihn ein ausgesprochen weiterer Tiefpunkt seines Lebens in den Jahren 1943- 1945. Stahl wurde für die Wehrmacht rekrutiert und so zeichnete sich für ihn hiermit ein äußerst dunkles Kapitel seines Lebens ab. Er reagierte darauf mit schwerer Krankheit, worin sich seine gesamte Ablehnung und Verzweiflung jener Jahre auch physisch ausdrückt. Er arbeitete für das verhasste Regime als Kriegszeichner. Doch seine Arbeiten jener Zeit konnten nicht aufgefunden werden. Die Autorin erwähnt ausdrücklich, dass diese Umstände in keinem Lexikonartikel Erwähnung finden.
Für die Nachkriegszeit bleibt vieles ungeklärt und Mario Stahl lebte ab 1948 in Schweden, heiratete Louise Leerb-Lundberg und seine Portraitzeichnungen zeugen nun von einer anderen Art – etwas dunkler, mit strengerer Linie gezogen? Die Betrachter:innen mögen sich ein eigenes Urteil bilden. Klar wird dabei, welch ein Talent Mario Stahl auszeichnete. Damit wird auch die Frage aufgeworfen, wie es dem Künstler wohl ergangen wäre, hätte es diese widrigen Umstände nicht gegeben und er seine Laufbahn nicht so abrupt abbrechen bzw. unterbrechen müssen.
Ulrike Sheldon zeigt uns Mario Stahl als den vielseitigen Künstler, mit seinen Werken, die sich mit wechselnden Linienführungen des Beständigen zum Zerfließenden hin die eigene Prägung verleihen. Damit übergibt uns die Autorin kein düsteres Bild. Das Buch fordert dazu auf, allen Emigranten mit Empathie zu begegnen.
Titel: Mario Stahl - Gesichter des Exils 1933-1943
Autorin: Ulrike Sheldon
Wienand Verlag
192 Seiten
mit 123 Abbildungen
ISBN 978-3-86832-758-8