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Uta Hassler/ Niklaus Kohler: Das Verschwinden der Bauten des Industriezeitalters. Lebenszyklen industrieller Baubestände und Methoden transdisziplinärer Forschung

Nach landläufiger Auffassung stellen Industrie- und Gewerbebau keinen erhaltenswerten Bestand dar, und das, obwohl der Einfluss von Fabrikgebäuden und anderen Ingenieurbauten auf die Entwicklung der modernen Architektur außer Frage steht – man denke nur an die diesbezüglichen Ikonen, deren Fotos in unzähligen Architekturbüchern vertreten sind. In den letzten Jahrzehnten hat sich auch der Denkmalschutz verstärkt um die Industriearchitektur bemüht und historische Anlagen unter Schutz gestellt; einige davon stiegen sogar in den Rang des UNESCO-Weltkulturerbes auf. Dennoch, folgt man den Autoren der vorliegenden Forschungsstudie, betrifft die Unterschutzstellung nur einen verschwindend geringen Anteil zwischen 0,25 – 0,5% aller Industrieanlagen.

Es geht den Verfassern jedoch weniger um ein Plädoyer für eine Ausweitung der Denkmalschutzbestimmungen, sondern um den Versuch einer Bestandsaufnahme über den Verlauf der letzten 150 Jahre. Da gerade die Lebensdauer von Industriegebäuden hauptsächlich von deren ökonomischer Nutzung abhängt, gilt für den überwiegenden Teil der Fabrikanlagen, dass sie nach einer Stillegung abgerissen oder nach einer Umstrukturierung des Werkes durch neue Hallen ersetzt werden. Nur wenige Gebäude entgehen dieser Dynamik, so dass sie schließlich einmal den Status eines Industriedenkmals erreichen könnten. Da die Zyklen der wirtschaftlichen Strukturveränderungen und der Verlagerung von Produktionsstätten immer kürzer werden, gleichzeitig die Unternehmen immer mehr unter Druck stehen und deshalb an rasch und preisgünstig errichteten Werkshallen interessiert sind, die nicht auf Langlebigkeit angelegt sind, ergibt sich daraus die paradoxe Schlussfolgerung: „je jünger ein Baubestand, desto geringer seine Aussicht auf Überleben“.

Diese Mentalität des postmodernen Industriezeitalters bedeutet jedoch nicht nur den Verlust von Gebäuden, sondern vor allem auch einen enormen Verbrauch an Ressourcen. Gleichzeitig geht nach wie vor der Trend dahin, die Gewerbegebiete an die Stadtränder und von dort entlang der Autobahnen auszudehnen – mit dem Resultat eines stark expandierenden Flächenverbrauchs und der damit verbundenen Bodenversiegelung. Währenddessen veröden die Zentren der Innenstädte, und an die Stelle einer städtischen Infrastruktur tritt das Zerrbild einer „Stadt ohne Eigenschaften“, in der kurzfristige Gewinne von Projektentwicklern langfristig zu hohen gesellschaftlichen Kosten und einem Verschieben der Probleme auf zukünftige Generationen führen. Dieses Dilemma, das vor allem in den amerikanischen Städten bereits gravierende Ausmaße angenommen hat, ist auch in Europa schon lange wohlbekannt, weshalb es kein nostalgischer Luxus und kein Akt von Sentimentalität ist, über einen effizienteren Umgang mit der Bausubstanz auch am industriellen Sektor nachzudenken.

Die Studienverfasser haben unter Auswertung aller erreichbaren Datenbestände versucht, die historischen Verluste an Baubestand abzuschätzen und die Veränderung durch Zugang und Abbruch zu dokumentieren. Aus den daraus errechneten Statistiken erstellten sie Modelle von „Lebenszyklen“ bzw. von „biographischen Mustern“ verschiedener Typen von Fabriken und Werksanlagen. Zur Veranschaulichung solcher Zyklen werden anschließend zwei exemplarische Biographien mit ausführlicher Dokumentation ihres geschichtlichen und sozialen Umfeldes vorgestellt.

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Die Zuckerfabrik Waghäusl entspricht dem Entwicklungsmuster einer Fabrik mit „großem Bestandsdurchsatz“, die durch viel Zubau und viel Abriss während ihres Betriebslebens gekennzeichnet ist. Während der gesamten, über 150-jährigen Betriebszeit wurden annähernd 500 Neubauten errichtet. Zum Zeitpunkt ihrer Stillegung im Jahre 1995 waren davon nur noch ca. 10%, nämlich 51 Gebäude vorhanden, die in der Mehrzahl erst in den 50-er und 60-er Jahren entstanden. Die Kokerei Hansa im Ruhrgebiet hingegen steht als Beispiel einer „langsamen Entwicklung“ mit einem hohen Anteil anlagenspezifischer Sonderbauten, die nahezu über die gesamte Betriebszeit bestehen blieben. Hier hatten immerhin 65% der Gebäude bis zur Schließung des Betriebes 1992 „überlebt“, allerdings wurden danach große Teile des Geländes rückgebaut.

Beiden Anlagen ist gemeinsam, dass es sich nicht einfach nur um irgendwelche Produktionsstätten handelte, sondern um die wirtschaftlichen Pulsadern ihrer jeweiligen Umgebung, im Falle der Zuckerfabrik Waghäusl könnte sogar von einer Fusion von Fabrik und Ortsgemeinde gesprochen werden. Zwei unterschiedlich geprägte Industrielandschaften erhielten gleichsam ihre Identität und ihre Seele durch die ansässigen Betriebe und deren Ende bedeutete zugleich einen Schlussstrich unter ein bedeutendes Kapitel in der Geschichte der Region. Auch dies ist eine gravierende Folge der globalen Veränderungen.

Zum anderen wollen die Autoren in ihrer Studie jedoch Auswege aus dem skizzierten Dilemma ausloten. Verbesserte planerische Konzepte, in denen Kostenwahrheit und die Berücksichtigung möglicher Nachnutzungsmöglichkeiten eine verstärkte Rolle spielen, könnten schließlich zu einem langfristig ausgerichteten Gesamtkonzept für eine nachhaltige Bestandspflege gebündelt werden. Damit sollten – ähnlich wie es im Bereich des Naturschutzes versucht wird – „Korridore einer akzeptablen Entwicklung“ definiert werden, die zu weit gehend stabilen und dauerhaft funktionsfähigen urbanen Systemen beitragen. Utopische Ansätze? – möglicherweise, doch schließlich ist es die Aufgabe von Utopien, neue Ideen und Vorschläge einzubringen und alte Denkstrukturen aufzubrechen.

Nachdem das Lesen von statistischen Daten naturgemäß nicht jedermanns Sache ist, haben die Autoren ihre Studie mit interessanten Exkursen angereichert. Hervorzuheben sind ein Beitrag über die Geschichte des Fabrikbaus, der sein Augenmerk auf die Entwicklung der Baukonstruktionen lenkt, und insbesondere die gesammelten Beiträge zu den Fallstudien Hansa und Waghäusl, die über den speziellen Einzelfall hinausgehend auch eine umfassende Einsicht in wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte des jeweiligen Produktionszweiges wiedergeben und vom Alltag der mit ihm verbundenen Menschen berichten. Parallel dazu erzählen die zahlreichen Abbildungen ihre eigene Geschichte der Industrialisierung und begleiten den Textteil mit wunderbaren historischen Aufnahmen, aber auch kritischen Bildkommentaren. Dadurch wird die im Kernbereich eher fachspezifische Studie gleichzeitig zur gut fundierten Sachliteratur, die viel Basiswissen über einen komplexen Themenbereich vermittelt.
 

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