Rezensionen

Veronica Peselmann: Der Grund der Malerei. Materialität im Prozess bei Corot und Courbet. Reimer 2019

Vor Kurzem machte ein Klassiker der Kunstgeschichte mit furiosen Neuigkeiten auf sich aufmerksam: Das für seine stille Einkehr bekannte Gemälde »Die Briefleserin« von Johannes Vermeer enthüllte nach Restaurierungsmaßnahmen einen lange übermalten Amor. Ist damit eine tradierte Deutungsperspektive in Gefahr? Weniger dramatisch, aber in dieselbe Stoßrichtung zielt Veronica Peselmanns Forschungsarbeit. Mit Hilfe des Malgrunds soll enthüllt werden, was noch niemand bemerkt hat. Der Ansatz scheitert, meint Rowena Schubert-Fuß, die das Buch gelesen hat.

cover © Reimer Verlag
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Man kann sich die Aufregung des zuständigen Restaurators nur vorstellen, als er die Malschicht entfernte, die den Amor so lange Zeit bedeckt hielt. Es stellt sich die Frage, warum er überhaupt versteckt wurde? Zu anrüchig für das gewählte Motiv? Zu viel Ablenkung? Es lässt sich nur spekulieren, was sich Vermeer dabei dachte, den Liebesgott wieder zu verhüllen. Die Geschichte lehrt uns allerdings, dass es sich lohnen kann, Alte Meister eines weiteren Blickes zu würdigen.

Der niederländische Maler Johannes Vermeer (1632-1675) schaffte es schon zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres auf die Titelseiten der Weltpresse. So durchleuchtete erst 2020 ein internationales Forscherteam sein »Mädchen mit Perlenohrring« und fand Erstaunliches. Man entdeckte, dass der Künstler hinter der jungen Frau ursprünglich einen grünen Vorhang gemalt hatte und ihr Ohrring quasi frei in der Luft schwebt, da ihm die Verankerung im Ohrläppchen fehlt. Diskussionswürdig ist hier unter anderem die Frage, ob es sich dabei um einen Fauxpas des Künstlers handelt. Es ist anzunehmen, dass Vermeer ganz bewusst die Entscheidung traf, dass das Bild ohne muffigen Vorhang, aber mit zentral gesetztem Glanzpunkt eine andere Wirkung auf den Betrachter erzielt. Man muss dazu wissen, dass in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in der das Bild entstand, der Kunstmarkt in den Niederlanden florierte und man sich als Künstler gegen eine große Konkurrenz durchsetzen musste. Ein origineller Bildentwurf war also entscheidend, um potenzielle Käufer anzulocken.

In gewisser Weise ist auch die in der vorliegenden Dissertation untersuchte Originalität von Jean-Baptiste Camille Corot (1796-1875) und Gustave Courbet (1819-1877), die Mitte des 19. Jahrhunderts der traditionellen akademischen Malerei den Kampf ansagten, von immenser Bedeutung für die Verortung ihres Werks. Für kontroverse Diskussionen sorgten dabei schon zu Lebzeiten der Künstler die Art des Farbauftrags bzw. die Gestaltung der verschiedenen Bildebenen. An vorderster Stelle steht dabei Courbet, der wegen des umfänglichen – und daher ungewöhnlichen – Einsatzes seines Palettenmessers von der französischen Presse als »Maler mit der Maurerkelle« verspottet wurde. Dieser Angriff auf den hehren Status der Kunst, der sie in die Sphäre niederer Arbeit rückte, war auch deshalb so bedeutsam, da von Courbet kalkuliert, um sich Aufmerksamkeit und somit Absatzmöglichkeiten für seine Werke zu sichern. Ironischerweise wirkte seine handwerkliche Orientierung gleichermaßen nobilitierend auf seine Kunst, zitierte sie doch das Vorgehen vergangener Meister.

Was Veronica Peselmann zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gewählt hat, ist nicht neu. Sowohl die sehr gut erforschte Malerei von Corot und Courbet, als auch ihre »Fragestellung« lassen keine spannenden Neuigkeiten erwarten. In ihrer Einleitung schreibt sie, ihre Arbeit ziele darauf ab, zu zeigen, dass »über den [Mal]Grund … Prozesse von Semantik, Material und Komposition verbunden werden können«. Zusammengefasst: Sie möchte den Fokus auf den nicht-figürlichen Zugang zum Bild schärfen, der in der kunsthistorischen Forschung traditionell unterrepräsentiert ist.

Man fragt sich an dieser Stelle unwillkürlich, ob dieses Vorgehen eine frische Perspektive auf den alten Konflikt über den Wert materialwissenschaftlicher Erkenntnisse bei der Bildanalyse werfen könnte. Seit Jahren gibt es zwischen den Geist- und Materialwissenschaften eine Art Paragone, einen Wettstreit, wem bei der Bildentschlüsselung mehr Anerkennung gebührt. Und tatsächlich liefern etwa Röntgenfluoreszenz- und Pigmentanalysen wichtige Hinweise zur Entstehung von Malereien und Zeichnungen. Allerdings bleibt dieser Ansatz unvollständig ohne eine gründliche ikonografische und ikonologische Untersuchung sowie der Kontextualisierung des untersuchten Gegenstands im Zeitgeschehen, wie die Autorin in ihrer Einleitung auch selbst bemerkt.

Im Grunde beantwortet Peselmann damit selbst die Frage, ob ihre Forschungsarbeit etwas enthält, das jahrelangen auf Ikonografie und Ikonologie fokussierten Untersuchungen verborgen blieb. Spektakuläre Enthüllungen darf man von diesem Werk daher nicht erwarten.

Peselmann gliedert ihr Opus magnum in zwei Bereiche: Lexikonforschung und Werkanalysen ausgesuchter Gemälde von Corot und Courbet. Lesenswert ist die Einleitung, in der die Autorin eine fundierte Überblicksdarstellung zur Bedeutung von Materialität im Malprozess bietet. Gänzlich uninteressant ist es nicht, beispielsweise darüber nachzudenken, dass gewisse Malgründe mit der Zeit eine Umwertung erfahren und ihnen dadurch selbst eine Bedeutung zukommt. Man erinnere sich: Künstler zitieren gern Vorgänger, um ihnen Respekt zu zollen bzw. sich in eine Traditionslinie mit ihnen zu setzen oder sie zu verspotten.

Ansätze, die Materialität als eine Zwischenzone begreifen, in der Imagination und Bedeutung interagieren, lassen das Material selbst zum Akteur werden, der Bedeutung generiert und nicht nur Gegenstand der Vermittlung ist. Leider gibt es für eine »Ikonologie der Werkstoffe« (Thomas Raff 1994) noch zu wenig konkrete Grundlagenforschung. In einer Fußnote verweist Peselmann beispielsweise auf einen Aufsatz von Kunsthistoriker Klaus Honnef im Kunstforum International, der sich mit der ikonografischen Bedeutung von Leinwänden befasst. Auch ein Aufsatz von Medienphilosoph Georges Didi-Hubermann über die Eigenschaften von Wachs wird genannt und zeigt den bildwissenschaftlichen Horizont an, den das Thema besitzt und der von Peselmann nur ansatzweise ausgelotet wird.

Materialsymboliken ändern sich. Ausgehend von der These, dass Sprache Bewusstseinsprozesse reflektiert und ein Sprachwandel Veränderungen in gesellschaftlichen und naturwissenschaftlich-technischem Prozessen abbildet, hat die Autorin diverse deutsche, französische sowie englische Lexika aus der Zeit vom Ende des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts herangezogen und die Lemmata zum Malgrund vergleichend untersucht. Diese semantische Analyse macht mit einem Umfang von 40 Seiten einen deutlichen Schwerpunkt in der Arbeit aus.

Bereits in der Einführung verweist Peselmann darauf, dass der Bedeutungswandel innerhalb des Grund-Begriffs mit Veränderungen der technischen Möglichkeiten zur Herstellung von Malgründen einherging. Es darf daher nicht verwundern, wenn in den Einträgen Anleitungen zur richtigen Grundierung abnehmen um Platz zu machen für qualitative Aspekte der Farbgestaltung in Relation zu ihrer Wirkung auf den Betrachter. So entsteht ein interessanter Hintergrund (»fond piquant«) laut Dictionnaire des Arts des Peinture, Sculpture et Gravure von 1792 beispielsweise durch die Farbigkeit des Himmels zu einem bestimmten Augenblick des Tages. Ein »fond agréable«, so das Dictionnaire, zielt hingegen stärker auf die Emotionen des Betrachters und soll in ihm ein Gefühl der Sehnsucht wecken, sich an andere Orte zu träumen.

Allen untersuchten Lexika gemein ist die Unterscheidung zwischen dem Malgrund als Bildträger und Kompositionsfläche. Dadurch wird die Bedeutung des Grunds als Kompositionselement selbst hervorgehoben. Peselmann illustriert dies nachfolgend anhand von Werken Corots und Courbets, jeweils im Umfang von 30 Seiten.
So wirkt Corots Anordnung der Farbfelder in seinem Aktbild »Marietta à Rome« (um 1843) wie Farbstudien. Sein Farbauftrag variiert dabei von dünnen Lasuren bis zu opak gehaltenen Flächen. Für sein Motiv, die Frauenfigur, ergibt sich eine quasi malerische Einverleibung. Sie ist untrennbar mit dem Malgrund verbunden.
Die Figur der Odaliske aus dem klassischen Motivkanon, die Corot hier zitiert, wird individualisiert durch einen eingeritzten Schriftzug an der Wand hinter der Frau, der aus dem Bild etwas so Intimes macht wie einen Tagebuchauszug. »Marietta à Rome« wird in einen Sehnsuchtsraum transferiert, in dem sich der Betrachter ihr ganz ohne Vorurteile nähern kann.

Noch symbolträchtiger wird es im anschließenden Kapitel zu Gustave Courbet, für das sich die Autorin u.a. sein Atelierbild (1854/55) und sein »Autoportrait sous forme d’une pipe« (1858) ausgesucht hat. Die komplexe Komposition aus Maler vor seiner Staffelei, Muse und Zuschauern vor einem Himmelshintergrund an der hinteren Wand des Ateliers birgt jede Menge Stoff für die Untersuchung. Relevant ist hier vor allem der doppelte Himmel an der Wand und im Bildausschnitt auf der Staffelei, was der einen träumerischen Effekt evoziert und mit Wirklichkeitskonzepten spielt. Der an die Atelierwand geputzte und relativ unscharfe Himmel und sein mit dicken Strichen deutlich auf die Staffelei gemalter Verwandter stehen sich wie ein Abklatsch des jeweils anderen gegenüber.
Eine Radiografie des Bildes offenbart, dass für den rückwärtigen Himmel sogar noch Leinwandbahnen hinzugefügt wurden. Diese Tatsache unterstreicht den bekannten Fakt, dass Courbet tradierte Formatvorgaben, Gattungen und Motive aufnahm – ebenso wie Corot –, um sie dann eigenständig nach seinen Vorstellungen zu arrangieren. Courbets Porträt als Pfeife führt das Experiment mit Sichtbarkeitsphänomenen sogar noch weiter fort: Denn die Pfeife hängt nicht etwa an der Wand, sondern entpuppt sich bei genauerem Hinschauen als eine gemalte Pfeife auf einer bemalten Leinwand, die eine Wand darstellen soll.

Dem Ingenium und Witz Courbets ist bereits an früherer Stelle Rechnung getragen worden. In summa hätte man sich diesen Esprit auch für Peselmanns Forschungsarbeit gewünscht. Die maltechnischen Untersuchungen zu den gewählten Künstlern sind aus Katalogbeiträgen bekannt, die sprachwissenschaftliche Untersuchung zur Begriffsgeschichte des Malgrunds wirkt ob ihres Umfangs viel zu opulent. Wenn es ihr nur darum ging, das Argument zu stärken, dem Malgrund komme eine große Bedeutung bei der Entstehung von Kunstwerken zu, was seine Begriffsgeschichte belegt, hätte man dies sicherlich auch auf 10 bis 15 Seiten umfassend erörtern können. Peselmanns Verdienst besteht so lediglich darin, bestehende Ansätze und Beiträge zusammengetragen zu haben.

Schlussendlich stellt sich die Frage, warum die Autorin ihren materialwissenschaftlichen Ansatz nicht an intermedialen Arbeiten erprobt und verifiziert hat, schreibt sie doch in ihrem Fazit, dass der methodologische Zugang über den Malgrund gerade bei nicht-klassischen Bildträgern geeignet sei, um den Einstieg zum Werk zu finden.

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