Ausstellungsbesprechungen, Meldungen zum Kunstgeschehen

Vincent Tavenne – Polarise-toi, Saarlandmuseum Saarbrücken, bis 6. Juni 2010

Bis zum 6. Juni 2010 präsentiert das Saarlandmuseum in der Ausstellung »Polarise-toi« 46 Werke des in Berlin lebenden französischen Künstlers Vincent Tavenne (*1961), der in den vergangenen Jahren besonders durch seine textilen Zelt-Objekte einem größeren Publikum bekannt geworden ist. In seinen bisweilen haptisch erfahrbaren Arbeiten geht es Tavenne – so Ralph Melcher in seinem Katalogvorwort – » um die Vorstellungs- und Erlebnisweise des Raumes, um das Ausloten seiner Begriffe und Wesenheiten«. Zugleich weisen die Werke den Betrachter kontinuierlich auf seine subjektiv gebrochene Wahrnehmung von Wirklichkeit hin und lenken den Blick aus ganz unterschiedlichen Perspektiven »auf die ideengeschichtliche so traditionsreiche Frage nach der Erschaffung von Wirklichkeit durch den menschlichen Geist« [Melcher]. Also streifen Sie den Alltag ab und begleiten Sie unsere Autorin Verena Paul durch die geheimnisvolle textile Pforte in ein märchenhaftes, schwebend leichtes, von Brüchen und Widersprüchen geprägtes Reich – das Reich Vincent Tavennes.

In der Tat öffnet sich direkt hinter der gläsernen Tür, die uns in den riesigen Ausstellungsraum führt, ein aus Stoffbahnen bestehendes Portal, das die Verbindung zur profanen Außenwelt kappt. Dahinter blicken wir auf verschiedene Zelt-Skulpturen, unter denen besonders ein roter Gang auf der rechten Seite mich unmittelbar anzieht. Tavenne selbst fordert mit seinen Werken den Betrachter ja auf, die Innenwelt mit all seinen Sinnen zu erkunden. Also schlüpfe ich in den schmalen, von außen in einem warmen Rot erstrahlenden Gang. Das stickige Innere ist überraschenderweise von schwarzen Stoffbahnen dominiert, die uns mehrere Wege zur Auswahl stellen. Mit mulmigem Gefühl in der Magengrube und mit verstärktem Puls streife ich durch das Dunkel und spüre, wie die leichten Textilien zu flattern beginnen, meine Arme und Beine berühren und ein beinahe unheimliches Eigenleben bekommen. Dann ist endlich der rot erstrahlende Ausgang in Sicht, der mir den Widerspruch des Raums, die Antipoden Licht und Schatten, Enge und Weite sowie Statik und Dynamik noch einmal verdeutlicht.

Ebenfalls im ersten weitläufigen Ausstellungsabschnitt fällt dem Betrachter zur Linken ein Pavillon aus antiken Leinen auf, der wie eine Marionette an einem System aus Schnüren und Leisten aufgehängt ist. »Das reizvolle Paradox eines Pavillons liegt darin«, wie Kathrin Elvers-Švamberk in ihrem Katalogbeitrag erläutert, »dass es sich um eine Architektur ohne eigentlichen Nutzen handelt, dass die Funktion des allseitig offenen Rundbaus primär in der ornamentalen Wirkung auf seine Umgebung liegt«. Dergestalt haben wir es nicht länger mit einem erdverbundenen Objekt als vielmehr einer »ephemere[n] Erscheinung« zu tun. Das schwebende Moment dieser Arbeit wird zusätzlich durch das natürliche Licht, das durch die Oberfenster eindringt, unterstrichen. Hier also das Beispiel einer klugen Positionierung, die den Kern eines Werkes zu unterstreichen weiß.

In unmittelbarer Nachbarschaft: Ein Vorhang aus einzelnen Stoffstücken, der sich von der Decke auf den Bode ergießt und gleichfalls vom natürlichen Licht lebt, das ihn anstrahlt. Dahinter verborgen finden sich Arbeiten auf Papier, deren dominante Form des Kreises mit der luftigen Stofflichkeit einen ganz eigenen Charme entfaltet. Insofern wird die Unendlichkeit von Raum sowie die eigene Sicht auf die Dinge reflektiert und in Ansätzen verständlich gemacht.

Einen aktiven Part erhält der Besucher wieder bei der orangefarbenen Kugel, die sich in der Nähe des Ausstellungszentrums befindet. Hier bieten kleine Löcher die Möglichkeit, das Innere mit dem Auge zu erforschen: Ein hölzerner Kern mit strahlenförmig abstehenden, dunkelbraunen Holzleisten, deren Enden den Stoff wie eine Membran spannen. Beim Umgehen der skulpturalen Arbeit blicke ich immer wieder durch die mal oben, mal unten positionierten Öffnungen und werde, ähnlich wie bei einem Theater- oder Zirkusbesuch, in den Bann gezogen, kann mich lange nicht von jenem von außen massiv anmutenden Erscheinungsbild lösen, dem die filigrane Aufsplitterung im Innern wirkungsvoll entgegensteht.

Neben den von materieller Leichtigkeit bestimmten Objekten finden sich vereinzelt Bodenobjekte, wie etwa der überdimensional große Verschluss einer Bierflasche, eine Zigaretten- oder Camembertschachtel. Die neue Dimension, in die Tavenne jene Alltagsgegenstände überführt, verweist bisweilen auf den Erlebnishorizont eines Kindes, durch dessen Augen den einfachen Dingen noch ein geheimnisvoller Zauber innewohnt. Insofern bleibt der »ursprünglich ‚funktionale’ Charakter der verbildlichten Alltagsgegenstände […] als Wesenszug im Kunstwerk erhalten, sein herkömmlich vorausgesetzter Sinn wird jedoch durch Übersteigerung«, so Elvers-Švamberk, »ins Phantastische gebrochen«.

Vorbei an zwei schwarzen Spiegeln, die konkav, beziehungsweise konvex Raum in sich aufnehmen, gelangen wir in einen Gang, an dessen Wänden uns zumeist Werke mit Kreisformen begegnen. Dabei bin ich zunächst an Mandalas erinnert, die in indischen Religionen als Hilfsmittel zur Meditation verwendet werden. Tavennes Ausgangspunkt ist jedoch eine Darstellung des Schöpfergottes in einer kostbar illuminierten Bible moralisée des 13. Jahrhunderts. Als „Baumeister der Welt“ umreißt dieser mit einem gewaltigen Zirkel die Erdscheibe, die sich in ähnlicher Gestalt bei Tavenne wieder findet: Die Gleichmäßigkeit der äußeren Kontur und die polypenartigen Ausstülpungen der inneren Formen werden in Variationen aufgegriffen. Dies ein Sujet, an dem sich der Künstler förmlich abarbeitet, denn es begegnet nicht nur in unterschiedlichen Formaten, sondern auch in verschiedenen Materialien, so dass die Dynamisierung der Mitte im Wandobjekt aus Eisenblech eine unglaubliche Steigerung erfährt.

Daneben machen mich vor allem die großformatigen Papierarbeiten neugierig, die Tavenne aus kleinformatigen Zeichnungen und Fotografien entwickelt. Die Vorlagen sind meist private Schnappschüsse, die den romantisierenden Landschaftsdarstellungen verpflichtet sind. Diese überträgt der Künstler auf jeweils 64 einzelne DIN A4-Bögen und bemalt sie unabhängig voneinander mit Gouache-Farben und klebt sie zusammen. »Zu den naturgemäß nicht passgenauen Ansatzkanten der freihändig erstellten Motivsegmente tritt entlang der Klebesäume nun auch noch ein Raster durchlaufender Knicke, […] die ihren Ursprung darin haben, dass Tavenne die montierten Bilder nach dem Prinzip einer Landkarte zusammen- und wieder auseinanderfaltet«, wie Elvers-Švamberk das komplexe Verfahren erklärt. Es findet also eine mehrfache »Entwirklichung« statt, denn bereits die Vorlage der fotografischen Aufnahme ist nur eine vage und äußert subjektive Wahrnehmung von Realität. Indem Tavenne jene Vorlage regelrecht zerpflückt, neu komponiert und bedingt (durch das Falten) wieder destruiert, stellt er radikal in Frage, was wir nur allzu gerne unreflektiert in Kauf nehmen: Die Wirklichkeit.

Um die Ecke führt der Gang weiter: Vorbei an den mit Imperativen, wie »ATOMISE-TOI«, »CRISTALLISE-TOI« oder »HYPNOTISE-TOI« versehenen großformatigen Arbeiten, hin zu den Masken, die mich ganz besonders faszinieren. In dem Moment, in dem ich etwa in jenes schwarze Rechteck starre, blicken mir meine eigenen Augen entgegen. Erschrocken weiche ich zurück, wage aber neugierig gleich noch einen Blick und ja, da zieht es wirklich einen Teil von mir in diese Maske hinein. Wie bei den Zelt-Objekten, die Berührungen des Betrachters mit der Arbeit verschmelzen, sind es nun die Reflektionen, das Aufnehmen der Augen des Betrachters im Kunstwerk.

Bevor der Gang endet, dann ein weiteres Highligth: Tavennes »Psychokisten«, in denen banale Alltagsgegenstände und kuriose Artefakte in schwarz ausgekleideten und mit Glas abgeschlossenen Wandvitrinen präsentiert werden. Da begegnen überdimensional große Bierdeckel, zusammengeschrumpfte Miniaturtempel, ein verästeltes grünes Pflanzenrelikt, ein kleiner Schädel, ein über allem thronender Pilz aus Pappmaché oder ein angeschnittener Camembert, auf dem drei Kartenspiele sowie zwei Würfel liegen. »Angesichts dieser unentschlüsselbaren, seltsam ungelenken Szenarien, […] scheint der Betrachter einmal mehr auf die Frage verwiesen, wonach sich für ihn wie für jeden Anderen die Empfindung von Schein und Sein in der visuellen und leiblichen Erfahrung der Welt bemisst: Allem Erkennen und anschaulichen Erschließen«, so Elvers-Švamberk, »liegt die Wahrnehmung der Welt aus der vom Subjekt eingenommenen Perspektive zugrunde«.

Fazit: Nachdem im vergangenen Jahr der französische Künstler Damien Deroubaix im Saarlandmuseum Werke zeigte, die ich als brutal ehrlich, schockierend abgründig und dämonisch provokant empfand, „polarisiert“ nun auch Vincent Tavenne. Wenngleich seine Werke auf den ersten Blick unbeschwert erscheinen, so tun sich im Innern neue, von Spannungen getragene Welten auf, die es zu erkennen und zu verarbeiten gilt. Eine abenteuerlich-märchenhafte, mitreißend-bezaubernde und wahrnehmungsschärfende Präsentation, der ich viele Besucher wünsche!

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