Buchrezensionen

Volker Adolphs, Stephan Berg (Hg.): Der Flaneur. Vom Impressionismus bis zur Gegenwart, Wienand 2018

Planlos streift er umher. Geht, um zu sehen, aber auch um gesehen zu werden. Sein Revier ist die Stadt. Er braucht sie, um seine Existenz zu rechtfertigen, sie wiederum braucht ihn, um ein Bild von sich zu erhalten. Die Rede ist vom „Flaneur“. Andreas Maurer hat sich den Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kunstmuseum Bonn angesehen.

Mit der ersten Ausstellung weltweit zu diesem Thema folgt das Kunstmuseum Bonn dem Weg dieses „Spaziergängers ohne Zweck und Ziel“. Über 100 Jahre umspannt der zeitliche Rahmen, vom Impressionismus bis zur Gegenwart. Mit Hilfe von 160 Werken (Leihgaben u. a. Tate London, das Pariser Musée d'Orsay, Museo Thyssen–Bornemisza in Madrid) von über 65 KünstlerInnen versucht die umfassende Schau, die (Kunst–)Geschichte des Flaneurs aus allen nur erdenklichen Blickwinkeln zu beleuchten: Von Gemälden, Zeichnungen und Grafiken über Fotografie und Film bis hin zu Installation und Audiowalk mittels Google Street View. Begleitend dazu ist ein umfangreicher Katalog erschienen – ein Rezept gegen die zunehmende Beschleunigung unseres Alltags und ein Plädoyer für Müßiggang und Innehalten.

Das scheint auch die Essenz des Flaneurs zu sein. Als sein Geburtsort, sein gelobtes Land (Zitat Walter Benjamin), gilt Paris: Denn Mitte des 18. Jahrhunderts, als die alte Stadtbefestigung niedergerissen wird, wächst die französische Hauptstadt zur Metropole an. Monumentale Sichtachsen und breite Boulevards ziehen ein großzügiges Netz über die Landkarte, in den hohen Häuserblocks gedeiht ein neuer Mikrokosmos. In dieser für ihn immer verwirrenderen Welt ist er, der Flaneur, nun zu Fuß unterwegs und lässt sich bewusst aufs Schauen ein. Als Voyeur und Detektiv in einem, ist er Zeuge und Archivar seiner Zeit, hat an allem teil und bleibt trotzdem auf Distanz. Wertfrei gibt er sich ganz dem Rausch des Sehens hin. Und so sieht er in der Stadt mehr als nur ein betoniertes Architekturensemble. Sein Auge steht nicht still, scannt unentwegt und entdeckt überfüllte Plätze, verwunschene Großstadt–Labyrinthe und flüchtige zwischenmenschliche Beziehungskisten.

Als früheste Verkörperung des Flaneurs kennt man den „Dandy“. Oft in Begleitung einer Schildkröte, spaziert er im Gleichschritt mit dem Haustier auf den großen Boulevards entlang. Frei von ökonomischen Zwängen stellt er damit seine wirtschaftliche Unabhängigkeit zur Schau, obwohl er dieser eigentlich seine Existenz verdankt. Lebenskunst meets Machotum.
Und wie dieser adelige Dandy ist auch der bürgerliche Flaneur rein maskulin. Gendering kennt er nicht. Denn historisch gesehen war es nur dem Mann erlaubt (und möglich), sich die Freiheit zum Flanieren herauszunehmen. Die Frau wurde zur Begleitung degradiert. Souveränität gewann sie erst durch neue Arbeitsteilungen.

Ursprünglich aus der Literatur kommend, zeigt der Katalog anhand von sechs Kapiteln und Aufsätzen (besonders interessant: „die kleine Geschichte des Pariser Flaneurs“ von Maité Metz!) wie der Begriff des Flaneurs auf die Kunst übertragen und schließlich bildhaft wurde. Und das, obwohl Künstler und Autoren eigentlich nicht unter die Rubrik „echte“ Flaneure fallen, denn ihre Beobachtungen sind zielgerichtet, ausgewählt und leidenschaftlich. Hardcore–Flanierer suchen nicht nach Motiven, sondern stoßen zufällig auf sie, so ihr Credo.
Andererseits: Auch der Flaneur selbst ist nicht immer der Gleiche. In seiner historischen Entwicklung – z. B. im Paris des 19. Jahrhunderts – schaute und bewegte er sich anders als im Berlin der 20er Jahre. Deutlich härter und widersprüchlicher gerät der Blick in der deutschen Gegenmetropole, während er in Frankreich das schimmernde Licht des Impressionismus in sich aufsaugt. Vereinzelt lassen sich auch Blicke in die New Yorker oder Londoner Häuserschluchten erhaschen, generell haben die Bonner Kuratoren aber neben Paris und Berlin andere Metropolen beinahe komplett aus dem Programm genommen. Trostpflaster ist dafür die große Anzahl an grandiosen Werken von George Grosz.
An ihnen lässt sich erkennen, dass Sehen immer auch ein Prozess ist, welcher von der Haltung des Schauenden mitgeprägt wird. Echte Anonymität und Abwesenheit bietet da nur die digitale Welt, in der sich der Flaneur heute ohne physische Grenzen (und unabhängig vom Wetter) fortbewegen kann.

Konträr dazu wird auf den 340 Seiten des Katalogs aber ausschließlich in vorgegebenen Bahnen flaniert: Jedes Kapitel behandelt ein übergeordnetes Thema (Städte; der Einzelne und die Menge; die Welt der Waren; Passanten und Passagen; Straßen und Plätze; die Gegenwart des Flaneurs). Farbenprächtig und ganzseitig sind die zahlreichen Abbildungen, dennoch vermisst man bei der Lektüre vieles schmerzlich: So sind etwa die Techniken der einzelnen Werke nicht weiter angeführt (erst im Anhang). Zwar etwas, worauf sicher viele LeserInnen verzichten können, dennoch ist es manchmal schön zu wissen, ob man nun ein großformatiges Ölgemälde oder ein zartes, auf nur wenige Zentimeter verdichtetes Pastell vor sich hat.
Auch bei der Abfolge der Kunstwerke darf man sich keine chronologische Entwicklung erwarten. Fast scheint es, als hätte der Zwang, Zusammenhänge und Einflüsse hervorzuheben, überhandgenommen. Etwa dann, wenn Fotos mit Gemälden aus dem 19. Jahrhundert wechseln oder plötzlich ein Werk von 1950 neben 2016 steht, nur weil beide Schatten zeigen (Otto Steinerts „Appel“ neben Koen van den Broeks „Shoulder“).
Spannend sind diese Gegenüberstellungen nur in einigen wenigen Fällen, etwa wenn man sieht, dass die Stimmungsfotografien von Brassaï oder Alfred Sieglitz schon vorweggenommen wurden. Wie es dazu kam, bleibt dank der fehlenden Bildbeschreibungen leider offen.
Man flaniert durchs Buch und muss nehmen, was sich einem darbietet, ganz wie der Flaneur bei seinem Stadtspaziergang. Nur könnte der einen Passanten nach Rat fragen, wodurch einige Werke aus dem logischen Kontext fallen: So erschließt sich etwa nicht was Ludovic Piettes „Blick über die Dächer von Rouen“ oder August Mackes „Blick auf unsere Strasse im Frühling“ mit der Ausstellung über Flaneure zu tun haben.

Nett wäre es auch zu wissen, was denn Franz Skarbina mit seiner „Kundgebung vor dem Berliner Schloss in der Nacht des 6. Februar 1907“ eigentlich genau festgehalten hat (die Auflösung: Kaiser Wilhelm II. nimmt nach dem Sieg der konservativen Kräfte bei der Reichstagswahl am 25. Januar 1907 die Huldigung der Berliner Bürger entgegen).
Auch Thomas Struths C–Print „Art Institute of Chicago 2“ erschließt sich erst, wenn man etwas recherchiert: Darauf betrachten Museumsbesucher Gustave Caillebottes Gemälde „Paris im Regen“ (laut Internet d a s Flaneurbilder schlechthin). Da es für die Ausstellung nicht ausgeliehen werden konnte, kam es dank Struths Fotografie indirekt aber doch noch nach Bonn.

Vollends zum Stocken kommt das gemütliche Flanieren aber schließlich bei den vielen Abbildungen von den Multimedia–Installationen. Bei Francis Alÿs 30-minütigem Trickfilm „Time is a Trick of the Mind“ hat man sich scheinbar gar nicht mehr die Mühe gemacht, auch nur irgendetwas Verständliches abzudrucken. Statt Videostills zeigt die Abbildung hauptsächlich Projektoren und Kabel. Auch die in Ausstellungskritiken hochgelobten Videos fallen diesem Schlendrian zum Opfer und lassen den Leser bei der Lektüre des Katalogs leider viel zu oft einfach kopfschüttelnd weiterblättern.

Titelangaben

Volker Adolphs, Stephan Berg (Hg.)
Der Flaneur. Vom Impressionismus bis zur Gegenwart
Wienand, ISBN: 978-3-86832-481-5, Ladenpreis 39,80 €

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