Buchrezensionen

Volker Herzner: Die Sixtinische Decke. Warum Michelangelo malen durfte, was er wollte, Georg Olms Verlag 2015

Warum wurde einem theologisch nicht umfassend gebildeten Maler wie Michelangelo die Verantwortung für das Programm der Sixtinischen Decke überlassen? Wer könnte sonst der Autor des Deckenprogramms gewesen sein? Volker Herzner wirft einen unvoreingenommenen Blick auf das berühmte Fresko und verbindet ihn mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Spunk Seipel hat das Buch gelesen.

Die Decke der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo ist eines der bedeutendsten Kunstwerke der Geschichte. Details wurden unzählige Male reproduziert, kopiert, zitiert und aus dem Zusammenhang gerissen. Das erweckt den Eindruck, als ob man das Deckenfresko gut kennt. Dennoch beschäftigt dieses Werk die europäische Kunstgeschichte wie kaum ein anderes. Die Literatur ist selbst für Fachleute unüberschaubar. Eine der elementarsten Fragen, aus der sich wiederum die Deutung des Deckenprogramms und der Details ergeben, bleibt die, ob und warum Michelangelo malen durfte, was er wollte.

Die Überlieferung, an der Michelangelo durch seine von ihm beeinflussten Biografen Ascanio Condivi und Giorgio Vasari erheblichen Anteil hatte, behauptet, dass der Künstler vollkommen eigenständig über die Gestaltung der Sixtinischen Decke entscheiden durfte. Aber kann es sein, dass einem lateinunkundigen, theologisch nicht geschulten Künstler die Gestaltung der Decke der wichtigsten Kapelle der katholischen Kirche allein überlassen worden ist? Ohne inhaltliche oder ikonografische Vorgaben? Die Zweifel werden bis heute nicht leise, auch wenn es keinem Wissenschaftler gelungen ist, den »Autor« des Programms der Sixtinischen Kapelle ausfindig zu machen.

Volker Herzner setzt an diesem Punkt der wissenschaftlichen Diskussion an. Grundlage für seine Untersuchung ist der Versuch eines unvoreingenommenen Blicks auf die Decke, der es erst ermöglicht, wichtige Fragen zum Programm des Freskos zu stellen. Die Beobachtung steht im Vordergrund seiner Untersuchung, mit der es ihm gelingt, zahlreiche Theorien zum Deckengemälde als weit hergeholte Thesen, die nichts mit der Malerei zu tun haben, zu entlarven: Michelangelo und seine Kunst diente seit jeher allen möglichen ideologischen Projektionen als Interpretationsfläche.

Herzner, der sich intensiv in die Literatur zur Sixtinischen Decke eingearbeitet hat, zeigt knapp gefasst die unterschiedlichen Deutungsansätze zu einzelnen Bildern oder Gestaltungselemente auf. Viele dieser Interpretationen verwirft er, um seine Behauptung, dass Michelangelo tatsächlich allein über das Deckenprogramm entscheiden konnte, zu bekräftigen. So wird jedes Gegenargument zur Seite gewischt, der Leser kann dem nicht immer folgen. Herzner unterstellt Michelangelo, ein lebenslanger Anhänger des strengen Kirchenreformers Savonarola gewesen zu sein. Aufgrund dessen Theologie wollte der Künstler mit der Sixtinischen Decke philosophischen und theologischen Bestrebungen seiner Zeit eine kategorische Absage erteilen. Sein Werk ist demnach eine Absage an jene, die glaubten, der Mensch sei fähig, in der Selbstvervollkommnung gottgleich werden zu können. Volker Herzner gelingt es so, die für Michelangelos Zeit einzigartige Abfolge der Deckenbilder zu erklären und einzelne ikonografische Probleme zu klären. Er scheut auch nicht davor zurück, die Ignudi, die jungen nackten Männer, für deren Deutung bis heute keine schlüssige Erklärung geliefert werden konnte, in den homosexuellen Kontext am Hof von Papst Julius II. und dem »Ganymed des Papstes«, Kardinal Francesco Alidosi, zu stellen.

Der Autor hat ein Buch vorgelegt, das auf einer gründlichen wissenschaftlichen Arbeit basiert, vor allem aber auf der Gabe, mit einem unvoreingenommenen Blick auf eines der bekanntesten Kunstwerke der europäischen Kunstgeschichte zu blicken. Leider ist die Struktur und der Stil des Autors nicht dafür geeignet, das Buch einem Laien zu empfehlen oder es in einem Zug durchzulesen. Es ist ein Werk, das man zur Hand nehmen wird, wenn man sich zu speziellen Details der Sixtinischen Decke informieren will. Schade ist, dass der Verlag am Bildmaterial gespart hat. Ein Plan der Decke wäre zum Beispiel hilfreich, aber auch die Bebilderung von ikonografischen Vergleichsbeispielen, die Herzner zahlreich anführt, würde die Thesen des Autors leichter nachvollziehbar machen.

Spannend zu lesen sind die knappen Aufsätze über die »Madonna della Scala« oder über den Bacchus und David, die dem Buch angehängt sind. Gerade hier kommt die Stärke des Autors zum tragen: Der genaue Blick auf die Kunst und Herzners Fähigkeit, selbst jahrhundertealte Überlieferungen zu hinterfragen. Herzner ist nicht der erste, der behauptet, das angeblich frühe Relief der »Madonna della Scala« sei nicht von der Hand Michelangelos. Aber seine Beschreibung der Unklarheiten, Widersprüche und Fehler des Reliefs wirkt überzeugend.

Volker Herzner hat einen Band zu einem Thema vorgelegt, von dem man annimmt, es wäre schon alles gesagt. Doch gerade das zeichnet den Autor aus: sich an Themen zu wagen, über die viel gesagt worden ist und grundlegende Fragen zu stellen. Darin kann er Vorbild für viele Kunsthistoriker sein und Lust machen, noch einmal die Decke der Sixtinischen Kapelle selbst genau zu betrachten.

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