Porträts

Von der Linie besessen? Henry van de Velde als Architekt und Designer in Thüringen

Auf der Suche nach Formen, die das Wesen einer Sache wiedergeben, stieß Henry van de Velde (1863-1957) das Tor zur Moderne auf. Anlässlich seines 150. Geburtstages widmen die mitteldeutschen Museen dem "Alleskünstler" ein Festjahr. Rowena Fuß informiert Sie, was ihn in Thüringen umtrieb.

Man stelle sich vor: Ein Nachmittag im Jahr 1889. Henry van de Velde sitzt an seinem Schreibtisch und denkt über einen Entwurf nach. Gerade hat er Nietzsche fertig gelesen. Seine anarchistischen Denkansätze, seine Kritik am Historismus, die Frage nach einer künstlerischen Selbstbildung bzw. -überwindung haben Eindruck auf den jungen Künstler gemacht. Zusätzlich weckt das Engagement von Bekannten für die belgische Arbeiterpartei P.O.B. in Blankenberghe sein Interesse an sozialistischen Schriften. Dies ist der Moment, in dem der später weltberühmte Designer »nur zu deutlich den bevorstehenden Bruch mit (…) seiner Karriere als Maler« ahnte, wie er später in seinen Memoiren schrieb. In ihm keimen Zweifel, ob ausschließlich Gemälde Geist und Seele der Menschen berühren und ihr Leben bereichern können. Warum kann das nicht auch mein Wohnzimmersessel? Kann Handwerk nicht auch "große" Kunst sein? Ein revolutionärer Gedanke, der 1919 schließlich im Bauhaus mündete.

Parallel zu sozialistischen Theorien, die mit einer Umwandlung der sozialen Wirklichkeit, die Gesellschaft erneuern wollten, entwickelte der Künstler Entwürfe für Häuser, Innenräume und ihre Ausstattung. Van de Velde will mittels einem stimmigen Umfeld das Leben der Menschen verbessern. Dabei lässt ihn der »Dämon der Linie«, der ihn schon in seinen Malereien heimsuchte, nicht los.

Die Linie zieht sich durch sein gesamtes Werk. Mal bündelt sie sich im Ornament, mal läuft sie vertikal an einer Hausfassade empor oder bewegt sich durch ein Interieur. Gleichgültig, ob Kerzenleuchter, Sessel oder Gebäude: Farben, Flächen und Linien verselbstständigen sich stets zu einem in sich geschlossenen Organismus.

Inspiriert hat ihn die Natur: Während eines am Meer einsam verbrachten Winters beobachtete van de Velde die ornamental-formbildenden Kräfte, die sich am Strand im Spiel von Wasser, Schaumkronen und Sand auswirkten. Seine Faszination für dieses Schauspiel führte ihn dazu, die Natur nicht mehr im Bild wiederzugeben, sondern ihre Kräfte abstrakt umzusetzen: als stilisierte Form.

Vater des modernen Designs …

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1901 stimmte Großherzog Wilhelm Ernst dem Vorschlag des Kunstsammlers, Diplomaten und Publizisten Harry Graf Kessler (von 1903-06 auch Leiter des Museums für Kunst und Kunstgeschichte in Weimar) zu und beruft van de Velde zu seinem Berater für Industrie und Kunstgewerbe. 1902 kam Henry van de Velde nach Thüringen und begann mit den Inspektionsfahrten zu den Handwerks- und Industrieunternehmungen. Eine grundlegende Schlussfolgerung aus den vorgefundenen Verhältnissen war die Verbesserung der kunstgewerblichen Ausbildung: Die Idee der Kunstgewerbeschule war geboren, ihre Umsetzung blieb jedoch für die nächsten Jahre ein ständig wunder Punkt interner Auseinandersetzungen. Da die Schule nie den Status einer staatlichen Lehranstalt erhielt, musste van de Velde den größten Teil seiner Ausgaben selbst finanzieren. Immerhin gelang ihm dies mit den hier produzierten Einbänden, Teppichen, Batiken und Schmucksachen.

Große Erfolge feierte er mit seinen Möbeln, denen somit eine herausragende Rolle in seinem Œuvre zukommt. Während die ersten Entwürfe noch deutlich den Geist von Arts & Crafts, Ruskin und Morris atmeten, richtete er um 1900 sein Augenmerk auf eine Verbindung von Funktionalität und Ornament, wonach die Funktion eines Möbels das Wesentliche sei und die Dekoration sich aus der Substanz entwickeln müsse. Wiederum in der Linie fand er die Inspiration für eine abstrakte geometrische Ornamentik.

Seine ausdrucksstarken Linien treten nicht nur in seinen Möbeln oder Buchgestaltungen auf, sie machten genausowenig halt vor Kerzenleuchtern, Besteck und Keramik oder den Interieurs von Dampfschiffen des Reeders Kröller-Müller und Eisenbahnwaggons der belgischen Staatsbahn. Denn auch die gestaltete van de Velde.

Ob Berlin, Paris, London – überall waren seine individuelle „Gesamtkunstwerke“ aus Möbeln, Tapeten und Geschirr gefragt. Damit wurde der „Alleskünstler“ zum schöpferischen Geist einer kunstreformerischen Aufbruchsbewegung, die dem eklektizistischen Prunk der Kaiserzeit entgegen stand.

Der Kunstkritiker Karl Scheffler meinte dazu 1900 in der Zeitschrift Die Zukunft: »Wenn man die internationale Bewegung jetzt überblickt, so kritisch wie es dem nahe Stehenden möglich ist, so kann man – vom englischen Kunstgewerbe abgesehen – kaum die Hälfte von allem ehrliche, selbstständige Kunst nennen; die andere Hälfte ist van de Velde.«

… und der Architektur

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Walter Benjamin fasste die Bemühungen des Belgiers, um eine individuelle Architektur einmal in die folgenden Worte: »Bei van de Velde stellt das Haus die plastische Darstellung der Persöhnlichkeit dar. Das Ornament ist diesem Haus, was dem Gemälde die Signatur.« Hierbei verfuhr der Architekt nach zwei Konzepten: Betonung der Fläche oder Betonung des Volumens. Beispielhaft für erstes ist ein Gebäude der heutigen Bauhaus Universität in Weimar, der nach ihm benannte van de Velde-Bau, 1905/06 errichtet. Die dominante Nordfassade wird durch großflächige Atelierfenster und kräftige Wandpfeiler, die sich in der Mittelzone noch in das Dachgeschoss hinein erstrecken, gegliedert. Van de Velde selbst sagte in seinen Memoiren: »Das Weimarer Institut, auf dem die Fahne des Aufstandes wehte, war die fortschrittlichste Zitadelle der neuen künstlerischen Prinzipien«.

Das zweite Konzept findet sich im Denkmal für den Physiker, Unternehmer und Sozialreformer Ernst Abbe in Jena verwirklicht. Entwurf und Ausführung fallen hier in die Jahre von 1909 bis 1911. Die Schaffung eines Gedenkraums, in der die Relieftafeln Constantin Meuniers und die Hermenbüste Max Klingers Platz fanden, bestimmte Form und Inhalt des Baus. Es war die erklärte Absicht des Architekten, einen Ort der Kontemplation zu errichten. Dabei heraus kam ein – bei geschlossenen Türen – wuchtiger tempelartiger Pavillon.

Während der Thüringer Jahre zeichnete er mehr als 63 Entwürfe, von denen immerhin 20 ausgeführt wurden. In seinen Memoiren meinte er 1906 dazu: »Die zwei Verschwörer, Harry [Harry Graf Kessler, Anm. d. Verf.] und ich, kämpften unerschütterlich für die Begründung und Verbreitung einer neuen künstlerischen und kulturellen Gesinnung.« Dies traf in einem konservativen Ort wie Weimar mit entsprechender Gesellschaft natürlich nicht immer auf Bewunderer. Ergiebig waren in der Anfangszeit und nach dem Weggang Kesslers 1906 besonders die Aufträge aus Freundschaft, darunter die Ausstattung des Nietzsche Archivs. Hier zeigt sich auch das große Können des belgischen Gestalters, einer subtil erkannten Lebensform ihr entsprechendes Gehäus zu geben.

Beim Umbau des Archivs 1903 galt es, zwei Funktionen unter einen Hut zu bekommen und gleichzeitig etwas Individuelles zu schaffen. Zum Einen sollte das Funktionieren des Archivbetriebs verbessert, zum Anderen eine Kultstätte für den Philosophen geschaffen werden. Höhepunkt war der Bibliotheks- und Vortragsraum. Im Spiel fließender Linien, etwa beim großen geschwungenen Sofa, und der Vertikalbetonung des Raums durch Regale, verwirklichen sich Nietzsches Prinzipien des dionysischen und apollinischen. Mit seinem Entwurf erntete van de Velde großes öffentliches Lob. Auch hatte er die gestiegenen Repräsentationsansprüche des Archivs wunderbar erfüllt.

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