Ausstellungsbesprechungen

Von Sinnen. Wahrnehmung in der zeitgenössischen Kunst, Kunsthalle zu Kiel, bis 21. Oktober 2012

Wie riecht, schmeckt, hört und fühlt sich Kunst an? Diese Leitfragen versucht die Kieler Ausstellung zu beantworten und stellt gleichzeitig die etablierten Verhaltensregeln für den Besuch von Ausstellungsräumen auf den Kopf. Rowena Fuß hat vor Ort über die Ergebnisse gestaunt.

Der erste Blick in die Schauräume irritiert: Den Weg scheint ein monströser Berg aus Fotografien zu versperren. Doch nein, wer sich hineintraut, darf erstaunt lesen, dass er die Installation nicht nur betreten, sondern sich gern durch die Aufnahmen wühlen darf. Sie läuten die Sektion »Sehen« ein. Erik Kessels macht mit seiner Arbeit aus einer Million Fotos, die er aus dem Internet geladen hat, die Bilderflut der Gegenwart greifbar.

Durch das Gebirge an Momentaufnahmen von Neugeborenen, Marathonläufern, Familien, Musikern, Speisen, Hockeyspielern, Drahtzäunen, Steinlabyrinthen und Blumenfeldern gestapft, gelangt der Besucher in einen scheinbar weißen, kahlen Raum. Bei näherer Betrachtung finden sich jedoch blasse Baumstämme an den Wänden. Sie sind mit unterschiedlichen Duftlasuren bestrichen. Durch Reiben oder Kratzen wird ein Duftstoff freigesetzt. Von süß über frisch bis herb besitzt Heribert Friedls »Forest (Klein Elmod)« viele Aromen. Sie rufen viel stärker noch als Bilder Erinnerungen wach. In diesem Fall an das Wohnhaus der Stifterin Charlotte Hegewisch, die das Grundstück für die heutige Kunsthalle spendete. Es stand im 19. Jahrhundert noch im Grünen vor den Toren der Stadt.

Verweilen wir noch ein wenig in der Sektion. Im anschließenden Raum parodiert Eugenio Merino nicht nur das feine Näschen von Duftentwicklern, sondern gibt eine wunderbar bissige Antwort auf die Frage: Wie riecht Kunst? Seine lebensechte Wachspuppe eines Chemikers mit weißem Kittel, grauen schütteren Haaren, einer Brille und auffallend großer Nase riecht an einem Exemplar von Piero Manzonis berühmt-berüchtigten Dosen. Ihr Inhalt besteht aus genau 30 Gramm »Merda d’artista« (Künstlerscheiße). Mit seinen Ready-mades parodierte Manzoni 1961 die Degeneration und Dekadenz der modernen Kunst, denn die Dosen waren natürlich vergoldet.

Als Kontrast steht diesem Werk der Dekadenz-Kritik die reine Dekadenz, ja Völlerei gegenüber. Aus brauner und weißer Schokolade, Popcorn, Nüssen, Zuckerguss und Lebensmittelfarbe fertigte Sonja Alhäuser im angrenzenden Raum Plastiken von Putten, Stelen und Absperrungen. Das besondere: Alles darf vernascht werden! Und obwohl der Verzehr auf eigene Gefahr erfolgt, kann ich nur sagen: Kunst schmeckt!

Mund und Hände von den letzten Resten dieser süßen Versuchung gesäubert, wartet im übernächsten Raum eine höchst erheiternde Erfahrung auf den Besucher: In Vadim Fishkins »Snow_show« kann man sich von weißen Styroporkugeln berieseln lassen. Dazu ertönen hawaiische Klänge. Unter dem Licht zweier Scheinwerfer wird man für einen Moment zu einem Star. Wie ein Ausstellungsobjekt angestarrt zu werden, war jedoch nicht allen Mitbesuchern angenehm. Außer den Kindern. Diese verloren sich geradezu in dem Schneetreiben und hatten einen Heidenspaß daran.

Neben den fünf herkömmlichen Sinnen, die in den raumgreifenden Installationen, Tafelbildern, Fotografien, Objekten und Videos angesprochen werden, adressiert der Rundgang auch den 6. und 7. Sinn. Etwa bei Paul Pretzer: Sein Schamane im Wolfspelz, gedoppelt wie in einem Spiegel, hält zwischen seinen Händen einen geschrumpften Affenkopf in der Schwebe. Pretzer verweist damit nicht nur auf Joseph Beuys im Besonderen. Dieser hatte sich in der Aktion »Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt« (1965) in der Rolle des Schamanen performativ für eine neue Einfühlung in die Tierwelt eingesetzt und wies früh den Weg in Richtung auf ein neues emphatisches Bewusstsein für die Umwelt. Pretzers Schamane kommentiert auch die Aura des Künstlers im Allgemeinen. Diese besteht aus einem Dualismus zwischen Körper und Geist, menschlicher Eitelkeit und weltlicher Begierden.

Überhaupt folgt die Kunsthalle mit dieser auf eine aktive Partizipation ausgerichteten Schau dem aktuellen Trend der Erlebnisausstellung. Die kontemplative Betrachtung von Kunst ist passé, es zählt die Action. Denn die bringt auch mehr Besucher in die altehrwürdigen Museen. Im vorliegenden Fall sind sie aber absolut gerechtfertigt. Die Schau muss man mit allen Sinnen erfahren haben!

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