Buchrezensionen

Walter Benjamin: Über Städte und Architekturen. Herausgegeben von Detlev Schöttker, Dom Publishers 2017

Walter Benjamin war ein großer Schriftsteller und ein leidenschaftlicher Reisender dazu; und so war er vielleicht nirgendwo mehr er selbst als in seinen Schilderungen großer und kleiner Städte. Stefan Diebitz zeigt sich sehr beeindruckt von der klugen Zusammenstellung seiner Miniaturen, Erinnerungen und kulturgeschichtlichen Essays.

Wie der Titel es sagt, geht es in diesem Buch um »Städte und Architekturen«, und wenn man alle Teile zusammennimmt, bietet es so etwas wie die Fragmente einer Philosophie des Wohnens (seinen »Lieblingsgegenstand«) – das ist der Aspekt, auf den es dem Herausgeber ankommt, der darauf in seinem anregenden Nachwort eingeht. Allerdings, es geht mehr um die Städte insgesamt als um die einzelnen Häuser, und künstlerische Aspekte spielen leider nur eine untergeordnete Rolle.

Während das erste von vier Kapiteln Berlin gewidmet ist, das zweite Paris, handeln die Kapitel drei und vier von »Orten im Süden« und »Orten im Norden«, zum Beispiel von Marseille und Neapel, Riga und Moskau. Alle diese Essays und Buchausschnitte bieten eine eigenwillige und reizvolle Mischung aus Soziologie, Kulturgeschichte und Gesellschaftskritik, die zusammen mit Benjamins oft sehr persönlichem, von Erinnerungen geprägtem Stil lebhafte und farbige Bilder evoziert. Es ist seine breite Bildung, die Vielfalt seiner Interessen und die Variation von Stil und Zugang, die das Buch so interessant und belehrend machen.

Das Berliner Kapitel enthält zwei Buchbesprechungen, in denen Benjamin seine außergewöhnliche Begabung als Rezensent demonstriert. Die erste dieser Besprechungen beschäftigt sich mit einem Buch seines engen Freundes Franz Hessel, und was er über diesen sagt, das gilt auch für zumindest einen guten Teil seiner eigenen Produktion und wurde vielleicht wirklich mit Blick darauf so formuliert: »Denn Hessel beschreibt nicht, er erzählt.« Eben dies macht den Reiz von »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« aus, aus der es einige Abschnitte in diese Auswahl geschafft haben; alles ist aus der Sicht eines Kindes geschildert, klingt absolut wahrhaftig und unverstellt und ist deshalb atmosphärisch enorm dicht.

Gelegentlich allerdings ist seine Sprache auch rhetorisch aufgedonnert, zum Beispiel hier, wenn er die gipsernen Exzesse des ausgehenden 19. Jahrhunderts feiert: »Unter dem plebs decorum der Kariatyden und Atlanten, der Pomonen und Putten, mit deren Entdeckung er den Leser hier aufnimmt, sind ihm die liebsten doch jene einst herrschenden, nun zu Penaten, unscheinbaren Schwellengöttern gewordenen Figuren, die angestaubt auf Treppenabsätzen, namenlos in Flurnischen einquartiert, die Hüterinnen der rite de passage sind, die ehemals jeden Schritt über eine hölzerne oder metaphorische Schwelle begleiteten.« Nicht oft ist Benjamins Sprache so schwelgerisch, auch so rhetorisch befrachtet, denn meist gilt das, was er an Hessel rühmt: er beschreibt nicht, er erzählt.

Was er hier beschreibt, ist der Gipsschmuck der Häuser, der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf eine immer schärfere Ablehnung stößt und oft abgeschlagen wird, und es ist vielleicht Absicht, dass er ebenso blumig und ornamental schreibt, wie er selbst den Gipsschmuck empfand. In einem anderen Text spricht er sich unter der Überschrift »Erfahrung und Armut« für die Nüchternheit aus. Den Eklektizismus des 19. Jahrhunderts führt er auf »Armut nicht nur an privaten sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt« zurück, nennt dies »Barbarentum« und fordert, von Neuem zu beginnen. »Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken.« Es ist nicht schwierig, in diesen Sätzen das künstlerische Programm der Moderne zu entdecken, und man ist nicht überrascht, gleich darauf auf den von Benjamin bewunderten Paul Klee zu stoßen: »Denn Klees Figuren sind gleichsam auf dem Reißbrett entworfen und gehorchen, wie ein gutes Auto auch in der Karosserie vor allem den Notwendigkeiten des Motors, so im Ausdruck ihrer Mienen vor allem dem Innern. Dem Innern mehr als der Innerlichkeit: das macht sie barbarisch.«

Als sein Hauptwerk geplant und leider nie abgeschlossen war ein Buch über die Pariser Passagen. Hierzu enthält dieses Buch Texte, die Benjamin selbst als Exposé ansah oder wenigstens bezeichnete, die aber eher Kurzfassungen mit sauber eingearbeiteten Zitaten und teils ausführlichen Ausdeutungen sind. Diese Abschnitte machen den größten Teil des zweiten Kapitels aus. Es sind Texte über das Paris des 19. Jahrhunderts, über die Pariser Passagen und vor allem über den Flaneur, dessen Bild Benjamin aus einer der bekanntesten Erzählungen Edgar Allan Poe heraus entwickelt. In seiner Methode folgt er damit Max Weber, der wohl als erster Autor bestimmte Typen (»den« Politiker, »den« Protestanten) in den Mittelpunkt seiner Arbeiten stellte. Ähnlich wie Weber arbeiteten unter anderem Karl Jaspers, der in seiner »Psychologie der Weltanschauungen« eine Reihe »verschiedener Geistestypen« unterschied, sowie dessen Schülerin Hannah Arendt in »Vita activa«, die sich mit der Beschreibung von drei Typen begnügte.

Anders als die vergleichsweise holzschnittartig argumentierenden Weber und Jaspers konzentriert sich Benjamin auf eine einzige Figur. Mit dem Flaneur schildert er die schillernde, uneindeutige Gestalt des Übergangs, und er greift dafür auf eine ganze Palette von Mosaiksteinchen zurück, die er zu einem zwischen Sittenbild und philosophischer Ausdeutung changierenden Text montiert. Es finden sich Zitate aus der Literatur (besonders natürlich Poe und Baudelaire), historische Zeugnisse aller Art und persönliche Beobachtungen, und alles verdichtet sich zu dem unerhört farbigen und interessanten Bild einer Zeit und eines ganz und gar einmaligen Ortes. Leider spielt die bildende Kunst hier nur eine untergeordnete Rolle, denn zwar spricht Benjamin einmal Odilon Redon an, auch den Surrealismus oder Dada, aber insgesamt spielt die Literatur eine viel größere Rolle als Malerei oder Skulptur.

Zweimal nennt Benjamin den großartigen Adolphe Monticelli (1824 – 1886), und an dieser Stelle nimmt er das Motiv seiner Kindheitserinnerungen wieder auf: »Das Licht von Grünkramläden, das in den Bildern Monticellis ist, kommt aus den Innenstraßen seiner Stadt, den monotonen Wohnvierteln der Eingesessenen, die etwas von der Traurigkeit Marseilles wissen.« Hier hört sich Benjamin fast an wie Proust (den er ja übersetzt hatte…)! Aber nur zwei Seiten zuvor zeigt er sich ganz als Autor der expressionistischen Epoche: »Marseille – gelbes, angestocktes Seehundsgebiß, dem das salzige Wasser zwischen den Zähnen herausfließt. Schnappt dieser Rachen nach den schwarzen und braunen Proletenleibern, mit denen die Schiffskompagnien ihn nach dem Fahrplan füttern, so dringt ein Gestank von Öl, Urin und Druckerschwärze hervor. Der ist vom Zahnstein, der an den wuchtigen Kiefern festbackt: Zeitungskioske, Reitiraden und Austernstände.«

Für die bildende Kunst ertragreicher ist die Lektüre der Moskauer Passagen. Der Benjamin dieser Jahre verstand sich als Marxist und sympathisierte mit der noch jungen Sowjetunion, stand ihr aber keinesfalls unkritisch gegenüber. Das wird deutlich, wenn er den Künstler als Funktionär beschreibt (»Er ist ein Angehöriger der herrschenden Klasse.«) oder verständnislos über die Abneigung alles Formalistischen sagt: »Tendenz und Stoffkreis werden für das Wichtigste erklärt.« Auch Propaganda und Plakatkunst stoßen auf Benjamins entschiedene Abneigung.

Das Besondere dieser Ausgabe besteht in den beigefügten 80 Illustrationen, denn der Herausgeber hat Postkarten aus den Städten, die in dieser Ausgabe eine Rolle spielen, in Briefmarkengröße neben dem Fließtext abgebildet und präsentiert sie ein weiteres Mal maßstabsgerecht im Anhang. Selbstverständlich sind es Schwarzweißbilder, aber das Wesentliche an ihnen ist nicht ihr ästhetischer Reiz, sondern der Zusammenhang mit Benjamin und seinen Arbeiten.

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