Buchrezensionen

Werner Busch: Das unklassische Bild von Tizian bis Constable und Turner. Verlag C. H. Beck, München 2009

Antithetisch lassen sich seit dem 16. Jahrhundert zwei Tendenzen der Malerei beschreiben, eine der Linie und eine der Farbe, eine, die auf der Literarizität, eine andere, die auf der persönlichen Erfahrung gründet. Es ließe sich auch von Intellektualität versus Subjektivität sprechen. Dieser Antithetik und ihren sehr verschlungenen Wegen in Malerei und Druckgraphik folgt Werner Busch in seinem Buch »Das malerische Bild«. Rezensent Stefan Diebitz hat diese empfehlenswerte Neuerscheinung gelesen.

Der Autor tut gut daran, den Leser mit Definitionen zu verschonen, aber ganz kann er es nicht vermeiden. „Ist das Klassische klar, korrekt, beherrscht, so das Unklassische unklar, unkorrekt, unbeherrscht. Das Klassische ist immer das Vernünftige, Regelgerechte, Normative, Offizielle, ja Staatstragende, das Unklassische ist unvernünftig, Wildwuchs der Phantasie, verstößt gegen Regeln und Normen, ja es ist gefährlich, da es das Offizielle unterminiert, infrage stellt. Zur Deklassierung des Unklassischen aus der Sicht des Klassischen gehört es, dem Klassischen Literarizität, dem Unklassischen Illiteratentum zuzuschreiben. Da das Klassische sich am Ideal orientiert, ist das Unklassische allein auf die Wirklichkeit verpflichtet.“

Nicht zuletzt die dank dem Fortschritt der Wissenschaft seit der frühen Neuzeit veränderte Wahrnehmung der Natur und all ihrer Phänomene schlägt sich im unklassischen Bild nieder, und so scheint es schlüssig, wenn der Autor Bilder interpretiert, in denen sich dieses veränderte Verhältnis spiegelt, wenngleich in einer indirekten Form, die besonders zu Beginn dieser Entwicklung einigen interpretatorischen Aufwand erfordert. Das gilt zunächst für die Sebastian-Darstellungen Tizians, in denen Busch zwei Tendenzen erkennt: „zum einen das Vorführen der Materie, aus der die Form erst dabei ist zu entstehen, zum anderen der Übergang des Sebastian selbst von einer Seinsform in eine andere, unfassbare.“

In ähnlicher Weise reflektiert der von Tizian und seinen Zeitgenossen nur zu häufig aufgegriffene Mythos von Diana und Aktäon den Gegensatz Artefakt – Natur, einerseits in der Verwandlung des Jägers in Natur (der Jäger belauscht Diana im Bade, wird von ihr entdeckt, in einen Hirsch verwandelt und von ihren Hunden zerrissen), andererseits in der Darstellung der Höhlengrotte, in der die Natur des Felsgesteins in Architektur übergeht.

Das „Houding“ Rembrandts (Busch schlägt vor, den Begriff mit „Zusammenstimmung“ zu übersetzen, was auf die Darstellung des Atmosphärischen zielt) ist das Thema der beiden sich an Tizian und Gainsborough anschließenden glanzvollen Kapitel. Busch kommt es darauf an, dass die Mittel des Houding „Wahrnehmung steuern (können), vor allem aber können sie, zugespitzt ausgedrückt, durch einen Verzicht auf die Verwendung klassischer, zugespitzter Perspektive dennoch Raum- und Körperillusion stiften.“ (152f.)

Schon in der Einleitung zeigt Busch am Beispiel der Stiche des „Museum Britannicum“, in welcher Weise Naturwissenschaft und Kunst sich berührten und einander beeinflussten. Es ist einleuchtend, dass Maler auf den Spuren der Natur und in Diensten einer Vorgängerinstitution des Britischen Museums sich nicht auf Idealisierungen gleich welcher Art einlassen konnten. Ein anderes Beispiel, an dem Busch diese Begegnung demonstriert, sind die Bilder, auf denen wir „Philosophen“ (Lehrer der Physik auf den Spuren Newtons) sehen, etwa in Joseph Wrights »Tischplanetarium« (1766). Vom England jener Jahre und seinen Künstlern schreibt Busch, es seien Künstler, „die nicht selten einen naturwissenschaftlichen Anspruch an ihre Kunst stellten, die aus der Provinz stammten und – verkürzt gesagt – der industriellen Revolution, ihrem Erkenntnisstand und Wirklichkeitsverständnis zuarbeiteten.“

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Mit dem Helldunkel und der Abkehr von der Linie verbindet sich ein von Busch immer wieder angesprochener Aspekt: Das Malerische fordert das Auge des Betrachters, der die Werke ergänzen soll, der also fortzuführen hat, was im Bild nur angedeutet, nicht aber ausgeführt wurde. Denn das unklassische Bild ist nicht vollendet; Malerei wird in ihr im Prozess vorgeführt, und der unklassische Maler, schon Tizian, aber auch später John Constable, vermag die Arbeit niemals für abgeschlossen zu erklären. Man sieht, dass Busch seine These darauf ausrichtet, aus der unklassischen Kunst die moderne Kunst entstehen zu lassen.

Der Autor hat sein Buch sorgfältig komponiert; die Kapitel über Tizian und Gainsborough, Rembrandt und endlich Turner und Constable sind eingefasst von Kapiteln, welche die Entwicklung des Claireobscurholzschnittes, des Mezzotintos und (am Ende des Buches) der Lithographie beschreiben. Busch deutet dieses Thema bereits im Vorwort an, wenn er auf Bildsteine aus dem Bestand des Britischen Museums zu sprechen kommt, in deren ganz zufällige Formen man allerlei hineinsehen kann: nur ein Beispiel für die von ihm immer wieder betonte Beteiligung des Betrachters. In einem der letzten Kapitel, bei Gelegenheit der Wolkenstudien Wrights, wird dieser Gedankengang wieder aufgegriffen.

Die Unterscheidungsmerkmale zwischen dem Klassischen und dem Unklassischen sind nicht in jedem Fall allein aus dem Bild selbst gewonnen (auch nicht allein aus der Analyse der malerischen Mittel selbst), denn sonst wäre es kaum zu erklären, warum ein William Turner sich auf der Seite des Klassischen wiederfindet. Welcher Maler wäre malerischer, nämlich weniger der Linie verpflichtet? Aber in diesem Buch erscheint er als Vertreter des Klassischen im Gegensatz zu John Constable. Diese Einschätzung vermag Busch absolut plausibel zu machen. Sie hängt mit der Literarizität zusammen, aber auch mit Turners Fähigkeit, Bilder tatsächlich abzuschließen und mit ihnen fertig zu werden – John Constable konnte das nie.

Als letzter Punkt mag die Temporalität angesprochen werden. Das Klassische ist dem Ideal und damit dem Überzeitlichen, das Unklassische aber dem Moment verpflichtet, buchstäblich dem Augenblick. In der deutschen Übersetzung eines Traktates von Pierre-Henri de Valenciennes wird vom „Ertappen auf frischer Tat“ gesprochen. Das unklassische Werk zielt auf das Festhalten eines von vielen Momenten, und das ist ein Grund, warum das Studium der Wolken, wie Busch ausführlich darstellt, einen derart breiten Raum im Werk von Constable einnimmt. Denn was würde sich schneller ändern als die Gestalt der Wolken? Die Bedeutung der Temporalität erklärt dann wieder die Bedeutung der Tonalität, deren Funktion ja nicht zuletzt auf die Darstellung der Lebendigkeit abzielt. In der Interpretation Buschs mündet sie nicht allein in die Überwindung des Gegensatzes zwischen dem Klassischen und dem Unklassischen, sondern letztlich in die Fotografie, und das sogar in direkter Fortsetzung und Weiterentwicklung von Techniken, die mit der Entwicklung der Druckgraphik zusammenhängen.

Alles in allem: ein überaus schönes, weil außerordentlich gedanken- und perspektivenreiches, dazu wohlfeiles Buch, gedruckt auf hochwertigem Papier und ebeno großzügig wie hochwertig illustriert. Es ist unbedingt und uneingeschränkt zu empfehlen.
 

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