Buchrezensionen, Rezensionen

Werner Hofmann: Phantasiestücke. Über das Phantastische in der Kunst, Hirmer Verlag 2010

Werner Hofmanns Buch »Über das Phantastische in der Kunst« ist eine anregende Tour de force durch die europäische Kunstgeschichte der letzten achthundert Jahre und eine philosophische Interpretation unserer kulturellen Grundmuster dazu. Ein höchst empfehlenswerter Prachtband mit wunderbaren Abbildungen und einem Text, der ein nicht alltägliches Maß an Gelehrsamkeit demonstriert. Stefan Diebitz hat das Buch gelesen und fand es großartig.

Hofmann © Cover Hirmer Verlag
Hofmann © Cover Hirmer Verlag

Hofmanns Buch ist eine europäische Kunstgeschichte, denn anders als Wieland Schmied in seinem wichtigen Buch »200 Jahre phantastische Malerei« (1973) konzentriert er sich nicht auf das 19. und 20. Jahrhundert, sondern versucht die Ursprünge der Phantastik bereits im Hochmittelalter nachzuweisen. So lässt sich dieses Buch also tatsächlich als eine – wenngleich etwas einseitige – Geschichte der europäischen Kunst lesen, in der nur wenige der großen Namen fehlen. Und es hat zusätzlich etwas von einem geschichtsphilosophischen Entwurf, denn die Entwicklung, die Hofmann für die bildende Kunst behauptet, ist in seinem Verständnis sicherlich nicht auf diese beschränkt.

Ein weiterer, dieses Buch von den meisten anderen kunstgeschichtlichen Publikationen unterscheidender Aspekt ist die Bedeutung, die der vielseitig interessierte Autor der Literatur zuspricht. Liebhaber E.T.A. Hoffmanns hören das schon am Titel, denn »Fantasiestücke in Callots Manier« hatte Hoffmann, der in dem Buch immer wieder angesprochen wird, seinen 1814 erschienenen Erstling genannt. Angeregt worden war er zu dem Stil seiner Erzählungen von dem französischen Kupferstecher Jacques Callot (1592 – 1635), dessen Kupferstiche, von einem Deutschen nachgestochen, auch noch sein späteres Meisterwerk »Prinzessin Brambilla« zieren sollten, eine Erzählung, die ein Paradebeispiel für das ist, was Hofmann unter Phantastik versteht. Aber es bleibt nicht bei den Dichtern der Romantik, sondern der Autor geht wiederholt auf das Werk zahlreicher anderer Erzähler ein, so auf Friedrich Theodor Vischer (»Auch einer«), Robert Musil oder Edgar Allan Poe, und dass das literarische Werk von Doppelbegabungen wie Alfred Kubin oder André Breton eine Rolle spielt, versteht sich unter diesen Umständen von selbst.

Den Dualismus, der nach Hofmann die europäische Kunstgeschichte und ganz besonders ihre ersten Jahrhunderte bestimmt, zeigt er an einem einprägsamen Beispiel auf, das er in zwei Illustrationen zu einer mittelalterlichen Handschrift in Dijon gefunden hat. Es geht um Initialen und um Holz hackende Mönche – einmal beschäftigen sie sich in aufrechter Körperhaltung mit einem gerade gewachsenen Stamm, einem »I«, das andere Mal sehen sie sich in das Innere eines »Q« eingezwängt und haben mit ihren gerundeten Leibern dessen Form angenommen. Diese beiden Initialen verkörpern die nach Hofmann wichtigsten Tendenzen der Kunst in der Phase bis ungefähr 1800: eine realistische und eine phantastische. Der Autor wird nicht müde, diese beiden Richtungen einander immer wieder unter den verschiedensten Überschriften gegenüberzustellen – Ordnung / Willkür ist so ein Gegensatzpaar, andere sind sachliche Wiedergabe / phantastische Umformung, monofokal / polyfokal oder klar / verrätselt. Der Autor zielt in seiner Darstellung insbesondere der ersten Jahrhunderte darauf, die Bezogenheit der Phantastik auf den Realismus herauszuarbeiten. Es sind „faktengebundene Metamorphosen“, die zunächst für die Phantastik typisch sind, so dass diese in der ersten Phase auf einem gewissen Realismus fußt.

Schon deshalb, weil der Autor ganz offensichtlich von E.T.A. Hoffmann fasziniert ist, muss er seine Aufmerksamkeit einem Jacques Callot schenken, der im 16. Jahrhundert in seinen Capriccios (eine Übersetzung könnte „Bocksprünge“ lauten) die Launen- und Sprunghaftigkeit selbst zum Thema machte; es ist das spielerische und unberechenbare Element der Kunst, das hier zum Vorschein kommt und das Hofmann zum guten Ende bei Max Ernst und Paul Klee wieder findet.

Um das Jahr 1800 herum erkennt Hofmann einen Bruch in der Entwicklung. »Seit dem 14. Jahrhundert« schreibt er, »ging das Geschichtsbild der europäischen Künste aus dem Wettbewerb der nebeneinander existierenden »I«- und »Q«–Linie hervor. Im 18. Jahrhundert kündigt sich eine Akzentverschiebung an: die innovativen Impulse der künstlerischen Selbstbefragung nehmen Zweifel an der Verbindlichkeit der sichtbaren Welt in sich auf. Sie kommen mehr und mehr aus dem Bereich der »Q«-Linie«. Das bedeutet für Hofmann, der sich hier den Analysen Wassily Kandinskys anschließt, dass der Dualismus, der die Kunst bis um 1800 herum bestimmt hat, erschöpft ist; Hofmann spricht von der »Aufhebung des Zweiklassensystems«. So erklärt sich auch die Einteilung des Buches in nur zwei große Kapitel, die mit „Die diesseitige Welt wird verrätselt“ und (etwas lakonisch) „Gegenwelten“ überschrieben sind.

Kandinsky hätte der Rezensent nicht zur Phantastik gezählt (und auch Wieland Schmied hat es 1973 nicht getan), und dass überhaupt abstrakte Kunst auf der Seite der Phantastik erscheinen kann, hat wohl mit der Bedeutung zu tun, die Hofmann der bloßen Linie zuspricht. Sie erscheint geradezu als der oder wenigstens ein Ursprung der Phantastik, denn ihre spielerische Beweglichkeit provoziert den fließenden Übergang zur Metamorphose, aus der die Phantastik erwächst. Immer wieder (es ist fast so etwas wie das Leitmotiv des Buches) zitiert der Autor das Wort Leonardos, dass das Ende der einen Sache der Beginn einer anderen ist. So sind aneinander gereihte Variationen (eines Gesichts wie einer Sache) eine Veranschaulichung unserer Phantasie und einer der Ursprünge der Phantastik.

Als Widerpart der Metamorphose bestimmt Hofmann die Arabeske, die sich aber niemals dauerhaft durchzusetzen wusste. Einer ihrer Vertreter war Philipp Otto Runge, der in der Kunst das Disparate und Phantastische in ein vorgegebenes Weltbild einzuordnen versuchte. Im Grunde degeneriert die Arabeske in dieser Weise zur Schönfärberei, zum bloßen Ornament. Die Phantastik selbst gerät von da an immer mehr zur Darstellung von Gegenwelten, zunächst etwa im Werk von Gustave Moreau (1826 – 1898) und Odilon Redon (1840 – 1916). In der Darstellung Hofmanns folgen dann Giorgio di Chirico – unter anderem mit seinem populären Hauptwerk »Der große Metaphysiker« - und später die Surrealisten. Zu den großen Künstlern der Phantastik zählt der Autor aber auch so verschiedene Gestalten wie Grandville mit seinen Karikaturen oder Henri Rousseau mit seinen Urwaldbildern.

Hofmann behandelt natürlich osteuropäische Maler, aber eigentlich allein diejenigen, die auch im Westen berühmt geworden sind, Chagall etwa oder Kandinsky. Dagegen werden einige der ganz Großen aus dem europäischen Osten überhaupt nicht wahrgenommen. Dazu zählt der hierzulande fast unbekannte litauische Maler Mikalojus Konstantinas Čiurlionis (1875 – 1911), der nach seinem frühen Tod zu so etwas wie dem Nationalkünstler seines Landes mit einem eigenen Museum in Kaunas geworden ist. Er hätte wohl in die Linie Moreau / Redon eingegliedert werden müssen, aber sein sowohl irritierendes wie hochpoetisches Werk unterscheidet ihn deutlich von eigentlich allen großen Künstlern Westeuropas. Bei ihm wie bei vielen anderen Malern muss noch die Bedeutung psychischer Krankheiten oder gar des Wahnsinns für die Genese ihrer Kunst angesprochen werden – eine Quelle der Phantastik, die Hofmann nicht anspricht.

Sein großes Buch beschließt der Autor mit einigen etwas lustlosen Seiten über die Gegenwart; lustlos, denn von den »Illusionskünsten eines gehobenen Unterhaltungsparks« lässt sich Hofmann, wie er bereits eingangs des Buches verrät, nicht verzaubern. Schon eher von Max Ernst und Paul Klee. Zunächst Max Ernst, dessen sich grotesk windender »Hausengel« den Umschlag ziert (ein Gemälde, das sehr stark an Jacques Callot erinnert), und endlich Paul Klee, dessen Lebenswerk Hofmann ganz offensichtlich als den vorläufigen Höhepunkt, aber auch Abschluss der Phantastik ansieht. In dessen Arbeiten erkennt Hofmann den »Entwurf eines Generalbasses«, in dem der Künstler, »ohne zu dogmatisieren, die gesamte formale Variationsbreite des vergangenen Jahrhunderts unterbrachte. Damit gelang ihm der Brückenschlag aus dem ‚Chaos’, in dem der Zufall und das Lebendige beheimatet sind, also die Orientierungsmarken der Surrealisten, in die ‚Ordnung’, die von den Kräften des Verstandes herbeigeführt, aber nicht beherrscht wird. Derlei hatte um 1500 Leonardo im Kopf. Auch ihm ging es um den Sprung aus dem Chaos in die Ordnung, um die Läuterung der vorläufigen feuchten Mauerflecken zu guten und vollkommenen Formen«.

Hier spielt Hofmann darauf an, dass es zunächst Leonardo war, der das Hineinsehen von Formen und Gestalten in das Linien- und Fleckengewirr eines noch feuchten Mauerstücks als nützliche Übung für den Künstler beschrieb. Bei dem Vermögen, gegenständliche Bilder in ganz zufälligen Strukturen entdecken zu können – also zu phantasieren –, scheint es sich (bei aller Vorsicht) um so etwas wie eine zeitunabhängige anthropologische Konstante zu handeln.

Diese Seite teilen

Besuchen Sie uns