Buchrezensionen, Rezensionen

Werner Plumpe, Jörg Lesczenski (Hrsg.), Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus

Bürgertum und Bürgerlichkeit – der Titel der Publikation ist zugleich Programm. Die Herausgeber, Werner Plumpe und Jörg Lesczenski, wollen damit eine konkrete historische Epoche umschreiben, die man auch als „Aufstieg und Niedergang“ bezeichnen könnte. Es geht um jenen Zeitabschnitt zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und der Weimarer Republik, als das Bürgertum – und damit ist hier dezidiert in erster Linie die Großbourgeoisie gemeint – die Aristokratie in ihrer Vormachtstellung abgelöst hatte, die Vorreiterrolle in der gesellschaftlichen Entwicklung selbst übernahm und die maßgeblichen Parameter in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht setzte.

Doch diese exklusive Stellung erodierte im Zuge der rasanten Modernisierung, so lautet die wichtigste Hypothese der Herausgeber. Zeigten sich erste Sprünge und Auflösungstendenzen bereits in der Zeit um 1900, so zerbrach an der Katastrophe des Ersten Weltkrieges letztlich auch der bürgerliche Wertekanon. Stattdessen setzte ein sozioökonomischer und geistiger Strukturwandel ein, der das Bürgertum als prägende Sozialformation zugunsten der modernen Massengesellschaft auflöste. Eine Ironie der Geschichte, wie Plumpe in seinem Vorwort befindet, hatte doch erst ein starkes Wirtschaftsbürgertum die Voraussetzungen für den Fortschritt geschaffen.

Die Herausgeber und AutorInnen des Sammelbandes stellen sich mit ihren Beiträgen in eine bewusste Opposition zu der weitverbreiteten Ansicht, wonach eine dominierende bürgerliche Gesellschaft in unveränderlicher Persistenz bis in die heutige Zeit die wichtigsten Positionen in Wirtschaft, Kultur und Politik besetzt halten würde. Dieser Ansatz greift ihrer Ansicht nach zu kurz, denn das Großbürgertum habe zwar nicht aufgehört zu existieren, jedoch seine gesellschaftliche Vorreiterrolle im frühen 20. Jahrhundert bereits wieder abgegeben. Analog zum allgemeinen gesellschaftlichen Umbruch waren auch die gutbürgerlichen Lebenswelten und Wertvorstellungen einschneidenden Veränderungen unterworfen.

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Leider gibt die Publikation nichts über die fachliche Ausrichtung der AutorInnen preis – eine Unsitte, die anscheinend neuerdings in Sammelschriften um sich greift – doch es steht außer Zweifel, dass es sich um kompetente ExpertInnen aus den Bereichen der Geschichte und der Soziologie handelt. Die im Übrigen sehr sorgfältig ausgearbeiteten Beiträge haben auch in kunsthistorischer Hinsicht vieles zu bieten: Die gewählte Darstellungsform innerhalb des vorgegebenen Zeitraums macht zwar den Wandel der bürgerlichen Gesellschaft deutlich, beschreibt aber auch epochenübergreifend gesellschaftliche Kontinuitäten, die in den üblichen stilgeschichtlichen Kategorien von Historismus, Jugendstil und Moderne meist nicht zu erfassen sind.

Die ersten drei Beiträge behandeln dann auch mit architektonischen Themen, untersuchen die Rolle der gesellschaftlichen Repräsentation und beleuchten das Bedürfnis nach räumlichen Inszenierungen. Die Konsumkultur der frühen Warenhäuser, die suburbanen Villenkolonien und die Geschichte des bürgerlichen Interieurs werden von den jeweiligen VerfasserInnen subtil nach ihren symbolischen Botschaften befragt.

Der zweite Abschnitt befasst sich mit bekannteren und unbekannteren Familienbiographien, wo sich im kleinen, individuellen Rahmen die große, allgemeine Zeitenwende widerspiegelte, und geht der schwer fassbaren Frage nach, worin nun eigentlich das Charakteristische einer bourgeoisen Lebensführung bestand. In diesem Zusammenhang beschäftigen sich mehrere Aufsätze mit konkreten Beispielen aus dem Alltagsleben, etwa dem Sport im geselligen Verband, dem Reisen, das durchaus noch als Bildungsinstrumentarium verstanden wurde, oder dem allgemein beliebten Engagement in Vereinsaktivitäten.

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Im dritten Abschnitt kommt schließlich das Kulturverständnis des deutschen Bürgertums auf den Prüfstand. Als Fallbeispiel eines großbürgerlichen Kunstmäzenatentums wird die Geschichte der Sammlung von August Thyssen auf dessen Schloss Landsberg vorgestellt. Von besonderem Interesse sind die zwei anschließenden Aufsätze, die sich mit der Rolle von Kunstvereinen und gemeinnützigen Stiftungen befassen und deren Einfluss auf – die gerade im Aufbau begriffenen – großen Institutionen beleuchten. Ein Blick auf die Theaterskandale der Weimarer Republik und eine kleine Geschichte der bürgerlichen Friedhofsgestaltung runden die Darstellung ab.

Es ist kein vollständiges, abgeschlossenes Bild der Epoche – was auch gar nicht zu leisten wäre – jedoch ein mit viel Sorgfalt zusammengetragenes Mosaik von unterschiedlichen Aspekten und gut recherchierten Schlaglichtern auf vergangene Lebensrealitäten. Das scheinbar Banale erweist sich hierbei als spannender und ergiebiger Forschungsgegenstand. Gerade der Blick auf die Alltäglichkeit wirft viel Erhellendes auf die großen Zusammenhänge der Geschichte.

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