Kataloge

Wilfried Seipel, Peter-Klaus Schuster (Hg.): Goya – Prophet der Moderne, Dumont Literatur und Kunst Verlag, Köln/Berlin 2005.

Zu den Goya-Werkschauen in der Berliner Alten Nationalgalerie und im Kunsthistorischen Museum Wien erscheint ein umfangreicher Katalog.

Die Hauptintension der Ausstellung, Francisco de Goyas Vorreiterrolle für die Moderne ins Zentrum zu stellen, versucht der bildgewaltige Band noch deutlicher zu untermauern. Neben diesem neuen Blickwinkel auf das Schaffen des spanischen Meisters legen Ausstellung und Katalog den Schwerpunkt diesmal weniger auf das bedeutende grafische Werk, sondern auf die Gemälde. Dabei finden sämtliche Schaffensphasen von den Entwürfen für die königliche Teppichmanufaktur, über die zahlreichen Porträts bis zu den düsteren Visionen des Spätwerks Berücksichtigung. Das grafische Oeuvre wird keinesfalls ignoriert. Den schwer deutbaren Grafiken, den Vorzeichnungen zu den „Desastres de la Guerra“ und Auszügen aus den Skizzenbüchern wird der ihnen gebührende Stellenwert im Gesamtwerk Goyas großzügig eingeräumt.

Der großformatige Band widmet jedem ausgestellten Bild eine eigene Seite mit Abbildung und ausführlicher Beschreibung. Anders als in der Ausstellung wird die Anordnung der Werke nicht nach thematischen Gesichtspunkten, sondern chronologisch vorgenommen. Dies führt den ambivalenten Charakter Goyas Schaffens deutlicher vor Augen, als es die Ausstellungskonzeption vermag. Neben der Auflistung der ausgestellten Werke bietet der Katalog neun Beiträge zur aktuellen Forschungslage. Eine umfangreiche Liste bisheriger Goya-Ausstellungen und ein erschöpfendes Literaturverzeichnis runden das Gesamtbild ab. Das beeindruckendste Element stellen jedoch die Abbildungen dar. Die originalgetreuen Reproduktionen stehen den Originalen in der Leuchtkraft der Farben kaum nach. Jeder Pinsel- oder Stiftstrich, die Beschaffenheit des Papiers, die Leinwandstruktur ist sichtbar; mit der Erforschung der Details sind Stunden zu verbringen. So kommt das Durchblättern des Kataloges dem Gang durch die Ausstellung verblüffend nahe.

Der ganz hinten, im Anschluss an den Katalogteil positionierte Beitrag von Sabine Pénot „Goya und seine Zeit“ bietet mit dem Lebenslauf und der Darstellung des historischen Umfelds des Malers eigentlich den passenden Einstieg für den „Goya-Anfänger“. Zu lesen ist ein, für das Verständnis des Werkes unerlässlicher, Streifzug durch das ereignisreiche Leben des spanischen Meisters, von seiner Zeit als Schüler von Anton Raphael Mengs bis zu seinem Aufstieg zum Hofmaler. Eine grundlegende Zäsur in Goyas Leben und Werk bildet eine schwere Erkrankung 1792, deren Folge lebenslange Taubheit war. Dieser Schicksalsschlag läutete die fruchtbarste Phase im Schaffen des Malers ein, die sich über die Jahrhundertwende hinaus fortsetzte. Gesellschaftliche Umwälzungen und der Krieg zwischen Frankreich und Spanien inspirierten ihn zur eingehenden Auseinandersetzung mit den Schattenseiten des menschlichen Daseins. Das Leben Francisco de Goyas endet mit den „Pinturas Negras“ in der Quinta del Sordo und dem Exil in Frankreich.

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Eine Einstimmung auf den Schwerpunktbereich des Katalogs, eine Erläuterung des Ausstellungs- und Publikationstitels bildet der einleitende Aufsatz „Goya – Mensch seiner Zeit und Prophet der Moderne“ der Kuratorin des Museo Nacional del Prado, Madrid, Manuela B. Mena Marqués. Sie begründet die Popularität und Modernität Goyas mit der Zeitlosigkeit seiner Werke, ihrer einzigartigen Bildsprache und unmittelbaren Anziehungskraft. Die Vielseitigkeit des Malers, die meisterhafte Schilderung des individuellen Ausdrucks, vor allem in den Porträts, zeichnen ihn als einzigartigen Künstler aus, der seiner Zeit voraus war. Die schon im Titel des Textes angedeutete Ambivalenz in Goyas Werk zwischen Auftragswerken und Kabinettbildern, zwischen dem strahlenden Licht in seinem frühen Schaffen und dem fast monochrom dunklen Spätwerk ist ein wichtiger Bestandteil des Ausstellungskonzeptes.

Das Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdbestimmung ist auch Thema des Beitrags „Der Exorzist“ von Werner Hofmann. Am Beispiel des Gemäldes „Die Familie des Infanten Don Luis de Borbón“ demonstriert er, wie Goya die Idee der Selbstverwirklichung selbst in Auftragswerke einzubringen vermochte. In künstlerischem Selbstbewusstsein positionierte er sich selbst malend und mit Leinwand neben die herrschaftliche Familie.

„Aus dem Porträt gefallen – Goyas unlesbare Gesichter“ von Wolfram Pichler und Ralph Ubl informiert über die vielfältige Auseinandersetzung des Malers mit der Darstellung des Gesichts. Begriffe wie Maskierung, Verschleierung und Entindividualisierung versuchen das Schaffen des Meisters der hintergründigen Porträts zu charakterisieren. Hier erfährt man auch, was es mit Goyas Entdeckung des „Arschgesichts“ auf sich hat.

Das Capricho 43 mit dem Titel „El sueño de la razón produce monstruos“ (Der Schlaf/Traum der Vernunft bringt Ungeheuer hervor) lässt aufgrund seiner Mehrdeutigkeit Raum für eine Vielzahl von Interpretationen; es ist „unausdeutbar“, wie Peter-Klaus Schuster in seinem Beitrag über eines der Hauptwerke der europäischen Kunst meint, und ein Sinnbild der Moderne. Da „sueño“ im Spanischen sowohl Schlaf als auch Traum bedeutet, ist der Grafik eine geheimnisvolle und vielleicht auch beabsichtigte Doppelsinnigkeit auferlegt. Die Übersetzung „Der Schlaf der Vernunft bringt Ungeheuer hervor“ ist eine Hinwendung zur Aufklärung; ersetzt man „Schlaf“ jedoch durch „Traum“ bekommt das Bild eine pessimistische Bedeutung, die ihrerseits die Vernunft unter den Verdacht stellt, selbst Ungeheuer zu produzieren. Da das Capricho 43 von Goya ursprünglich als Titelblatt der Grafikfolge gedacht war, liegt es nahe, dass sich der Maler hier selbst in der Rolle des Genies porträtiert, das mit der Gefährdung seines Schaffens durch die Unvernunft oder aber mit den Ungeheuern seiner eigenen künstlerischen Fantasie konfrontiert wird. Welche Geheimnisse dieses bedeutende Werk Francisco de Goyas noch umgeben, verrät der Aufsatz Schusters in ausführlicher Weise.

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Was Goyas Grafiken mit Filmstills aus „Gozilla“ oder Stanley Kubricks „2001: Space Odyssey“ gemeinsam haben, erklärt Moritz Wullens Beitrag „Goya und die Hexenküche der Moderne“. Wullen findet in Goyas Werk Analogien und Strukturgleichheiten zur modernen Bildindustrie. Er beschreibt den Künstler als Traditionsbrecher, der in seinen Grafiken gängige Kompositionsregeln auf den Kopf stellt und verstärkt mit der Verunklärung des Bildraums arbeitet. Die dadurch entstehende Beweglichkeit der Bildelemente ist ebenso ein unverzichtbares Element für die Kinematografie und die Fotomontage. Wie viele Filme der Gegenwart kreierte Goya Monstren, setzte Fremdkörper in vertraute Bilder. Mit digitalen Techniken ist es heutzutage möglich, diese Fremdkörper nahtlos in den Film zu integrieren, so dass uns ihre Fremdartigkeit und Monstrosität kaum noch auffällt. Mit einem Blick auf das Werk Goyas scheint die Komplexität moderner Bilderfindungen wieder verständlicher und übersichtlicher zu sein.

Im Anschluss an eine Betrachtung der Arbeit Goyas für die Tapisserienmanufaktur in Madrid von Katja Schmitz-von Ledebur findet sich ein Überblick über die Goya-Rezeption in der deutschsprachigen kunsthistorischen Literatur von Teresa Posada Kubissa. Neben bekannten Thesen bietet der Katalog auch neue Ansichten auf das Wirken Francisco de Goyas. Neben diesen neuen Einblicken, die angesichts der bereits vorhandenen umfangreichen Rezeption nur leitendes Beiwerk sind, wird, in Auseinandersetzung mit weniger bekannten, doch nicht minder beeindruckenden Werken, ein umfassender, visuell überzeugender Überblick über das Schaffen eines außergewöhnlichen Künstler geboten.

Bibliographische Angaben

Wilfried Seipel, Peter-Klaus Schuster (Hg.), Goya. Prophet der Moderne, Dumont Literatur und Kunst Verlag, Köln/Berlin 2005. 372 Seiten mit 200 farbigen und 24 einfachen Abbildungen. ISBN 3-8321-7563-6, € 39,90 (D) / sFr. 69,90.

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