Rezensionen, Ausstellungsbesprechungen

Wir werden bis zur Sonne gehen. Pionierinnen der geometrischen Abstraktion. Verlag Hirmer und Wilhelm-Hack-Museum bis 27.04.2025

Von Anni Albers, Sonia Delaunay über Hilda Mans hin zu Sophie Taeuber-Arp und Shizuko Yoshikawa – damit präsentiert sich die immense Bandbreite dieses Buches. Es geht um Künstlerinnen, die sich auf die Suche begaben, die Linie neu zu interpretieren, um dem Auge ungeahnte Räumlichkeiten zu erschließen. Jene Schöpferinnen wollten dem Neuen eine „offene“ Rahmung verleihen und dem Publikum eine Welt der geometrischen Abstraktion anbieten. Es dreht sich alles um Künstlerinnen, die als Pionierinnen benannt, einen noch nicht beschrittenen Weg zu gehen beabsichtigten und diesen auch in ihren Schöpfungen umsetzten. Melanie Obraz folgte jener abenteuerlich anmutenden Spur der Pionierinnen.

Cover © Hirmer Verlag
Cover © Hirmer Verlag

Als Intro sei bemerkt, dass das Buch schon allein durch die besondere Ausführung – bedrucktes Leinen – eine kunsthandwerkliche Wertigkeit über die Haptik vermittelt. Jene aufwendige Gestaltung zeigt sich dann ebenso bunt in den Farben Rot, Blau, Grün mit geometrisch gestalteten Formen auf dem Cover, übrigens von Sophie Taeuber-Arp: (Equilibre 1932, Öl auf Leinwand) Daran kommt kein an der (Kunst-) Abstraktion interessierter Mensch vorbei. Aber Abstraktion, was ist das eigentlich und wie genau und wovon abstrahierten die hier vorgestellten Künstlerinnen?
Damit wird sogleich das Bild der Künstlerinnen als Kolleginnen gezeichnet, die wahrhaft als Pionierinnen einer Kunstform gelten dürfen, die philosophische Ideen und soziale/sozialistische Überzeugungen ebenso spiegeln und generieren wie andererseits auch die Gefühlsebene einer Abstraktion aussprechen. Der Zeitraum von 1914-1980 ist damit weit gesteckt und eröffnet sogleich die Ebene zum „Neuen Sichtbaren“. Es geht um Farbe, Form und die Gestaltung des Alltäglichen in der Verbindung zum Aspekt des Sozialen. Eine so angewandte Abstraktion findet überall Zugang, so als Bekleidungsstück oder auch als Kunstobjekt, welches hier aber nach allen Seiten hin offen und daher wiederum vielseitig verwendbar wird.

Margarete Heymann-Loebenstein, Haël-Werkstätten für künstlerische Keramik, Mokkaservice, um 1925/30, Bröhan-Museum, Landesmuseum für Jugendstil, 110 Art Deco und Funktionalismus, Berlin, Foto: Martin Adam, Berlin, © Archiv Bröhan-Museum, Berlin, VG Bild-K
Margarete Heymann-Loebenstein, Haël-Werkstätten für künstlerische Keramik, Mokkaservice, um 1925/30, Bröhan-Museum, Landesmuseum für Jugendstil, 110 Art Deco und Funktionalismus, Berlin, Foto: Martin Adam, Berlin, © Archiv Bröhan-Museum, Berlin, VG Bild-K
Marlow Moss, Compositie met dubbele lijn en blauw vlak, 1934, Collection Vleeshal, Middelburg (SBKM), Dauerleihgabe M HKA, Antwerpen, Foto: M HKA © Marlow Moss und ihre Rechtsnachfolger*innen
Marlow Moss, Compositie met dubbele lijn en blauw vlak, 1934, Collection Vleeshal, Middelburg (SBKM), Dauerleihgabe M HKA, Antwerpen, Foto: M HKA © Marlow Moss und ihre Rechtsnachfolger*innen

Hervorzuheben ist, dass das Buch dem Bauhaus und den dort tätigen Künstlerinnen eine besondere Wertschätzung widmet. So wird Gunta Stölzl (1897-1983) genannt, die ab 1927 Meisterin der Weberei und damit die einzige künstlerische Leiterin am Bauhaus war und durch ihre Experimentierfreudigkeit jene neuen Akzente setzte.
Vor allem aber erklärt sich damit auch, was es mit dem Wort „abstrakt“ auf sich hat. Es gelingt der Ausstellung wie dem begleitenden Buch, die Bedeutung und die Anwendung des Begriffes des Abstrakten, durch die zahlreichen bildlichen Beispiele und ihre Herleitung dem Publikum vor Augen zu führen. Doch steht der Begriff damit nicht im alleinigen Mittelpunkt, sondern die Umsetzung und also die Anwendung, die eben etwas abzieht, von der Gegenständlichkeit, von dem Gegenständlichen an sich, um so die Quintessenz dessen zu verdeutlichen, warum es überhaupt zur Abstraktion in der Malerei kam.

Margarita Azurdia, Sin título, ca. 1967–1970, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid Dauerleihgabe von Fundación Museo Reina Sofía, 2022, Foto: Photographic Archives Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, © Milagro de Amor S. A. / Depósito
Margarita Azurdia, Sin título, ca. 1967–1970, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid Dauerleihgabe von Fundación Museo Reina Sofía, 2022, Foto: Photographic Archives Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, © Milagro de Amor S. A. / Depósito

Das Verhältnis des Menschen zur Natur erfährt hier ein Loslösen, einen Neubeginn und ein Aufbrechen. Es gibt etwas Besonderes, und diese neue Sichtweise eröffnet eine Stilisierung, die schließlich in der Abstraktion mündet, die nichts versteckt, sondern geradezu offenlegt. Es geht auf das Zugrundliegende und Spezifische in der Malerei und sogar weit darüber hinaus, ist doch in dieser Hinsicht eine stete Neuerkenntnis der Dinge möglich. Doch geht man hier überhaupt noch von einem Gegenständlichen aus, um es lediglich immer mehr zu verfremden? Damit ist das Neuartige, der Aufbruch jener Künstlerinnen als Pionierinnen und ihre neue Wahrnehmung und Umsetzung der Malerei nicht erfasst. Hier liegt ein gänzlich anderer Gesichtspunkt zu Grunde, denn es ist entscheidend, dass nicht auf die Wirklichkeit – so wie sie uns erscheint – zurückgegriffen werden soll. Es geht weit über jene Erscheinung der Dinge hinaus und somit zeigt sich hier ein geisteswissenschaftlicher, ein philosophischer Ansatz.

Alexandra Exter, Maquette de lumière aus dem Portfolio Décors de Théâtre, 1927/1930, Pochoir, Sammlung Pabst, Foto: Sammlung Pabst
Alexandra Exter, Maquette de lumière aus dem Portfolio Décors de Théâtre, 1927/1930, Pochoir, Sammlung Pabst, Foto: Sammlung Pabst
Franciska Clausen, cirkler og vertikaler, 1930, SMK, National Gallery of Denmark, Foto: Jakob Skou-Hansen © VG Bild-Kunst Bonn, 2024
Franciska Clausen, cirkler og vertikaler, 1930, SMK, National Gallery of Denmark, Foto: Jakob Skou-Hansen © VG Bild-Kunst Bonn, 2024

Es geschieht etwas völlig Neues mit den Betrachtern, die sich auf jene Abstraktionen einlassen. Die Pionierarbeit der Künstlerinnen ist so auch keine Kunst der Reduktion. Einmal mehr muss hier verdeutlicht werden, dass es um ein völlig neues Sehen geht. Ein solches bezieht sich damit auf die von den Künstlerinnen geleisteten Akte des Sehens und zugleich auch auf jene der Betrachter:innen. Beide Seiten sind in dieser Weise in den Prozess eines neuen Sehens miteinbezogen, ja geradezu wechselseitig aufeinander angewiesen. Damit ereignet sich eine Umstrukturierung des Bisherigen und der Kosmos des Bildlichen avanciert zu einem wirklich grandios riesigen Kosmos des Neuen. Auch darum wird Wilhelm Worringer zitiert „[…] der Urkunsttrieb hat mit der Wiedergabe der Natur nichts zu tun. Anders gesagt: Was in der Kunst wirklich zählt, ist das, was aus dem Geist des Künstlers entsteht, nicht aus der Natur oder den Empfindungen, die sie auslöst.“

Lou Loeber, Stillleven-Schrijftafel, 1930, Kunstmuseum Reutlingen | konkret, Sammlung Kerp, Foto: B. Strauss, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Lou Loeber, Stillleven-Schrijftafel, 1930, Kunstmuseum Reutlingen | konkret, Sammlung Kerp, Foto: B. Strauss, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Es sind die Linien, die Schwingungen, die Punkte, die plötzlich explodieren können und die eine eigene Welt jener Linien kreieren. Ganz in diesem Sinne wird weit in die Historie zurückgegriffen, um schon jene Tendenzen bei Hildegard von Bingen (1098 – 1179) zu verdeutlichen. Papst Eugen III. hatte nicht nur den Auszug vom Disibodenberg auf den Rupertsberg und die damit verbundene Gründung eines eigenen Klosters befürwortet, sondern jener heilkundigen Visionärin auch die Möglichkeit gegeben, ihre Visionen bildlich festzuhalten, worüber das Werk „Wisse die Wege“ – „sci vias“ Auskunft gibt, mit welchem ein Bildprogramm vorgestellt wird, was nicht nur Mediävisten:innen, sondern allen Betrachtern:innen eine wertvolle Einsicht in jene spirituelle Welt gibt. Auch Hildegard von Bingen abstrahierte und so können wir noch heute an ihrer Sichtweise des Hochmittelalters teilhaftig werden.

Vera Molnar, Ohne Titel, 1945/50, Gouache, 49 x 63,5 cm, Sammlung Stadler, Munich, Foto: Linde Hollinger, Ladenburg, © VG Bild-Kunst Bonn, 2024  Abb. 09, Verena Loewensberg, Ohne Titel, 1947, Aargauer Kunsthaus Aarau, Foto: Jörg Müller, © Verena Loewensbe
Vera Molnar, Ohne Titel, 1945/50, Gouache, 49 x 63,5 cm, Sammlung Stadler, Munich, Foto: Linde Hollinger, Ladenburg, © VG Bild-Kunst Bonn, 2024 Abb. 09, Verena Loewensberg, Ohne Titel, 1947, Aargauer Kunsthaus Aarau, Foto: Jörg Müller, © Verena Loewensbe
Verena Loewensberg, Ohne Titel, 1947, Aargauer Kunsthaus Aarau, Foto: Jörg Müller, © Verena Loewensberg Stiftung, Zürich, 2024
Verena Loewensberg, Ohne Titel, 1947, Aargauer Kunsthaus Aarau, Foto: Jörg Müller, © Verena Loewensberg Stiftung, Zürich, 2024

Eine ganz andere Möglichkeit in die Welt der Abstraktion bezeugt sich durch Georgiana Houghton 1871, die in London eine Ausstellung eröffnete und mit den „Spirit Drawings in Water Colours“ in der New British Gallery ebenso eine Neuaussage auf die Dinge hervorbrachte. Sehr feine Linien und eine ebensolche Linienführung verlangte sogar nach Lupen, die von der Künstlerin verteilt wurden, um eben die speziellen Feinheiten sehen zu können. Detailliertes wurde so zum Mittelpunkt der Malerei, in welcher sog. geistige Kronen – Spiritual Crown of Annie Mary Howitt Watts – ein Thema waren. Die Psyche des Menschen, das Nichtsichtbare avancierte zum Thema in der Malerei. So finden in diesem Buch auch die nicht unumstrittenen, der Theosophie verbundenen, Damen Helena Blavatsky und Annie Besant Erwähnung.

María Freire, Untitled, 1953–1956, Mercedes-Benz Art Collection, Foto: Cecilia de Torres Gallery, Ltd. New York, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
María Freire, Untitled, 1953–1956, Mercedes-Benz Art Collection, Foto: Cecilia de Torres Gallery, Ltd. New York, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Doch steht vor allem die Frau als Macherin in der Kunst im Focus, die den männlichen Kollegen gleichgestellt ist, so wie es die viel beachtete, hochgeschätzte Sonia Delaunay (1885-1979) mit ihrem Statement zum Ausdruck bringt: „Ich sehe da keinen Unterschied; es gibt gute und schlechte, genau wie bei den Männern.“ Auch aus diesem Grund setzt das Buch mit der Frage nach Paris als Stadt der Frauen einen weiteren Akzent. Doch ist diese Überschrift zugleich mit einem Fragezeichen versehen. Ein kritischer Blick hinter die Fassade, der auch damals so angesagten Weltstadt der 1920er Jahre besagt, dass sich der Frau als Künstlerin nicht sogleich alle Türen öffneten. Dennoch war es das spezifisch künstlerische Milieu des Vielfältigen, was die Experimentierfreudigkeit in Paris befeuerte. Auch Vera Molnar ist als Künstlerin mit ihren Ölgemälden wie Aquarellen vertreten, die den Fokus ihrer Werke in den 50er Jahren auf den Rhythmus zwischen Halbkreisen und farbigen Flächen setzte. Ihre Arbeiten zeigen durchaus Reminiszenzen an das Werk der Delaunay, womit sich „eine weibliche Genealogie in die geometrische Abstraktion“ ankündigt.

Ljubow Popowa, Suprematistische Komposition, um 1916, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen
Ljubow Popowa, Suprematistische Komposition, um 1916, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen
Ljubow Popowa, Komposition, ca. 1918, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen
Ljubow Popowa, Komposition, ca. 1918, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen

In gleicher Weise ein Thema sind hier die Bühnen- und Kostümgestalterinnen Warwara Stepanowa und Ljubow Sergejewna Popowa, die in den 1920er Jahren auch einen Beitrag zu den Werten einer neuen sozialistischen Gesellschaft beisteuerten. Demgegenüber findet in ganz anderer Hinsicht Lucia Di Luciano (1933 Syrakus) hier Erwähnung, die schon mit ihren schwarz-weißen Rastern einen Meilenstein setzte und auch 2022 an der Biennale von Venedig teilnahm. Auch hierin bezeugt sich einmal mehr die Bandbreite des Buches, welches das Zitat Sonia Delaunays aus ihrer Biographie plakatiert: „Wir werden bis zur Sonne gehen“.

Regina Cassolo Bracchi, Struttura, 1951, Gaetano e Zoe Fermani, Foto: Paolo Borrelli, © Archivio Regina Cassolo Bracchi, Milano
Regina Cassolo Bracchi, Struttura, 1951, Gaetano e Zoe Fermani, Foto: Paolo Borrelli, © Archivio Regina Cassolo Bracchi, Milano

Begrüßenswert ist, dass der deutsche Text stets auch in englischer Übersetzung präsentiert wird und somit einen weiten Interessenkreis anzusprechen vermag. Das Buch, welches zugleich die Ausstellung repräsentiert, wendet sich an Interessierte der abstrakten Kunst wie auch an all diejenigen, die auf diesem Gebiet noch Erfahrungen sammeln möchten.

Titel: Wir werden bis zur Sonne gehen. Pionierinnen der geometrischen Abstraktion
Hrsg. Astrid Ihle, Julia Nebenführ, René Zechlin. Beiträge von internationalen Expert:innen
Text: Deutsch / Englisch
Verlag: Hirmer, gebunden Hirmer Premium: Bedrucktes Leinen
Umfang: 300 Seiten
202 Abb. In Farbe
978-3-7774-4426-0 (dt. Cover)

Erschienen: November 2024. Ausstellung Wilhelm-Hack-Museum 16.11.2024–27.04.2025
We Will Go Right Up to the Sun. Female Pioneers of Geometric Abstraction.
978-3-7774-4427-7 (engl. Cover)
November 2024

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