Ausstellungsbesprechungen

Yvonne Kendall – Chronicles of an Extraordinary Life, Galerie Schleuse 16, Böblingen, bis 4. November 2012

Tagebücher, Annalen und Chroniken können die Aufzeichnungen eines ganzen Lebens enthalten. Meistens handelt es sich dabei um seitenweise beschriebene Blätter, die aneinander gebunden sind. Yvonne Kendall bildet darin eine Ausnahme. Sie braucht eine Ausstellung, um ihre in Stoffobjekten eingefangenen Lebensaufzeichnungen darzustellen. Günter Baumann hat sich die Werke angesehen.

Chroniken eines außergewöhnlichen Lebens notiert Yvonne Kendall in ihrem Werk, das in groß angelegten Zyklen über das eigene Dasein reflektiert – eine Art Tagebuch in der dritten Dimension: »Chronicles of an Extraordinary Life«. So übertitelt die 1965 in Birmingham geborene und seit 1974 in Australien aufgewachsene Künstlerin ihre gewitzte Ausstellung im Böblinger Kunstverein. Der ironische Beiklang dürfte dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen. Was in der »Schleuse 16« im Alten Amtsgericht – Sitz des Böblinger Kunstvereins – bis Anfang November 2012 zu sehen ist, könnte man als ein Kapitel aus der erwähnten, beziehungsreichen und über Jahre hinweg entwickelten Selbstbetrachtung bezeichnen. Dabei begnügt sich Yvonne Kendall, die seit 2000 in Reutlingen lebt und arbeitet, nicht mit autobiographischen Details. Sie macht ihre weitläufigen Erfahrungen zu prozessualen Chiffren des Lebens an sich. In einer bewundernswerten Stringenz hat sich Kendall bei der Neubestimmung ihrer Vorstellung von Heimat auf den aktuellen Zyklus zubewegt.

Die Etappen bis dahin kann man kurz skizzieren mit dem Bedürfnis zum Sesshaftwerden (Symbolik der Schildkröte), der Suche nach einem Zuhause (Symbolik des Hauses) sowie der letztlich poetischen Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz (Symbolik des Baums, des Engels und des Schwans). Hier sind auch schon die bevorzugten Sinn-Bilder für den Lebenswandel genannt, die das Schaffen von Yvonne Kendall durchziehen. Die Objektkünstlerin verwendet bei der Umsetzung bewusst schlichte Vorhang-, Gardinen- und Polsterstoffe wie Tischdecken, die sie in raffinierter Verknotung und regelrechter Verstrickung zu realistisch anmutenden Tieren und Dingen formt. Mit dieser Stofflichkeit erinnern die figurativen Plastiken an den Wohnzimmer-Charme der 1950er Jahre. Den aktuellen Zyklus könnte man als Phase der inneren und äußeren Einrichtung, als eine mögliche Endbestimmung der Heimatsuche beschreiben: Wieder tauchen die in Stoff gehüllten tierischen und dinglichen Protagonisten auf, die nun aber auf Bücherstapeln stehen. Assoziierte man in früheren Arbeiten etwa den Schwan als ästhetisch überhöhtes Suchen in unklaren Gewässern oder die Schildkröte als Zaudern und Zögern bzw. als mühsames Ans-Ziel-Kommen; waren Haus und Baum mit Wurzel- und Unterwerk versehen, was auf das Bestreben hinwies, Boden unter die Füße zu bekommen; steht der Bücherturm für Statik, Bodenständigkeit, reflektiertes statt aktivem Tun.

Die chiffrierte Handschrift in Kendalls Werk ist vielfach verknüpft. Die Bücher, die vorwiegend englischsprachige Titel tragen, verweisen nicht nur auf die anglophone Herkunft der Künstlerin, sondern vermitteln auch in Gestalt eines Sockels auf ein Bildungsgut, auf dem eine kulturell verankerte und selbstbewusste Existenz aufbaut. Scheinbar zufällig, ungeordnet aufgetürmt, bekommt dieses Fundament des Wissens eine Fragilität, die uns daran gemahnt, dass die Werte heute fragwürdig geworden sind. Assoziativ wird der Betrachter auf die sporadische Doppelbödig- und Mehrdeutigkeit der Bücherberge stoßen, wenn er sich mit den Titeln befasst – Zufallsfunde wären etwa »Inside my Heart«, »A State of Peace« oder »Seeds of Change«. Die Künstlerin suchte die Bücher zwar sporadisch auch auf Flohmärkten, doch ließ sie sich schon von den im Titel suggerierten Inhalten leiten.

Die rund zehn Arbeiten verteilen sich großzügig in den Räumen der Schleuse 16. Das klingt spärlich. Bei näherer Betrachtung entfalten sie jedoch in der Beleuchtung des Kunstlichts eine jeweils lebendige Szenerie, die ihren eigenen Raum fordert und ein geheimnisvolles Doppelleben im Schattendasein an der Wand evoziert. Darüber hinaus treten die stelenhaft positionierten Geschöpfe in einen spannungsreichen Dialog zueinander. Kurzum: Yvonne Kendall scheint angekommen zu sein in einer Heimat, die auf dem kulturellen Fundament ruht. Trotzdem lassen die Arbeiten – gerade in der instabil wirkenden Stapelung des Büchersockels – Fragen offen: Die symbolstarken Protagonisten darauf tragen in ihrer personalen Ikonographie noch die Spuren des suchenden Denkens in sich. In diesem Kontext sind auch die kleineren Wandobjekte zu sehen, die bevorzugt geflügelte Bücher darstellen. Die Gedanken sind frei, das drängt sich förmlich auf, aber dazu kommt noch die unruhige Flatterhaftigkeit der Fantasie, die sich gegen eine allzu etablierte Sesshaftigkeit behauptet. So gesehen reflektiert Yvonne Kendall nicht nur über ihr Leben, sondern auch über die Kunst an sich.

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