Ausstellungsbesprechungen

Zweimal »Blauer Reiter« 2003/2004

Es war offenbar ein günstiger Zufall, der wollte, daß hierzulande zwei Ausstellungen zeitgleich die Künstlerbewegung „Der Blaue Reiter“ zum Thema haben. Das Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen zeigt vom 11.11.2003 bis zum 29.2.2004 unter dem Titel „Der Blaue Reiter. Die Befreiung der Farbe“ über zweihundert Exponate aus nahezu allen Gattungen der bildenden Kunst.

Neben Kandinsky und Marc, den geistigen Urhebern und Redakteuren des sogenannten Almanachs Der Blaue Reiter und Initiatoren der beiden Ausstellung(en) der Redaktion des Blauen Reiters 1911/12, deren Ziel es war, „in der Verschiedenheit der vertretenen Formen zu zeigen, wie der innere Wunsch des Künstlers sich mannigfach gestaltet“, sind Münter, Macke, Jawlensky, Werefkin, Campendonk, Delaunay, Klee und Kubin sowie (der Komponist als Maler) Schönberg,  Nestlé und Mattis-Teutsch vertreten.

Das Besondere der Ludwigshafener Ausstellung liegt darin, daß sie die Exponate nach thematischen Schwerpunkten wie „Menschen“, „Tierbilder“, „Natur und Landschaft“, „Stilleben“ usw. präsentiert. So eröffnen sich dem Besucher Einblicke in die künstlerischen Entwicklungsprozesse der Avantgarde zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, wobei einerseits thematische Diversität und individuelle Handschrift ebenso erkennbar werden wie andererseits verblüffend gleiche Bildauffassungen (z.B. Campendonks und Marcs Pferdebilder aus der Zeit 1912-14). Weitere Schwerpunkte sind: „Religiöse Themen“, „Musik und Literatur“ oder „Märchen, Sage und Legende“. Sie alle leiten zu wesentlichen Ideen des Blauen Reiters gemäß Kandinskys Postulat des „Geistigen“, das für die Kunst ebenso gelten sollte wie für die Literatur und für die Musik, in der mit Schönberg ein Mitstreiter gefunden wurde, der im Sinne Kandinskys meinte: „Der Künstler tut nicht, was andere für schön halten, sondern nur, was ihm notwendig ist.“ Dabei hat man, so Kandinsky, „jede Form für richtig (= künstlerisch)“ anzusehen, „die ein äußerer Ausdruck des inneren Inhalts“ ist. Die so verstandene Kraft des Geistigen führte ihn in die Abstraktion; und mit „Abstrakte Bildwelten“ ist auch der zehnte und letzte der thematischen Schwerpunkte überschrieben. Hier reicht die Ausstellung mit Hans Mattis-Teutsch schließlich über den Kreis des Blauen Reiters hinaus, um den weitreichenden Einfluß der Bewegung auf die künstlerische Moderne exemplarisch zu dokumentieren.

 

Abstraktion ist allerdings nur einer der beiden Pole der intendierten Durchgeistigung der Kunst. Der andere Pol wird repräsentiert von der „großen Realistik“, für welche die Tierbilder des Schweizers Jean-Bloé Nestlé stehen, der auch schon zur ersten Ausstellung der Redaktion des Blauen Reiters eingeladen war.

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Auch wenn es in Ludwigshafen nicht explizit wird: Eine wesentliche Inspirationsquelle für Technik und Thematik des Blauen Reiters war die volkstümliche Hinterglasmalerei. Das wird mit Nachdruck von der Ausstellung in der Kunsthalle Bielefeld: „Der Blaue Reiter. Avantgarde und Volkskunst“ (5.10.2003-11.1.2004) demonstriert.

Dort findet der Besucher neben den ca. dreißig Exponaten von Münter, Kandinsky, Jawlensky, Werefkin, Campendonk, Marc und Macke – überwiegend aus der Kernzeit des Blauen Reiters – rund fünfzig Hinterglasbilder aus Oberbayern. Sie gehören zwar zur Sammlung Hertha Koenig und damit zum Bestand der Kunsthalle, sind aber vorher noch nie öffentlich gezeigt worden. So wie diese Hinterglasbilder mit überwiegend religiösen Motiven darf man sich auch diejenigen vorstellen, die von den Künstlern um Gabriele Münter – sie nahm die Vorreiterrolle auf diesem Feld ein – und Kandinsky in Murnau entdeckt, gesammelt und eifrig imitiert wurden. Wie sehr die Beschäftigung mit diesem traditionellen Genre die Bildauffassungen des Blauen Reiters beeinflußte, macht diese Ausstellung sichtbar: Nicht nur geht die Wendung zur Flächigkeit der Farbe und zur dunklen Umrißkonturierung auf die Hinterglasbilder zurück; darüber hinaus werden sie zu einem favorisierten Bildgegenstand eigener Gemälde, wie vor allem einige Interieurs Gabriele Münters zeigen.

Stolz dürfen die Bielefelder Ausstellungsmacher darauf sein, Hinterglasbilder aus der Hand Münters, Kandinskys und Campendonks präsentieren zu können, die wegen ihrer besonderen Fragilität üblicherweise nicht verliehen werden. Höchst aufschlußreich ist es, wenn sich parallel dazu die größerformatige Umsetzung in Öl betrachten läßt.

Auf einem der volkstümlichen Hinterglasbilder begegnet ebenso wie in mehreren Arbeiten Kandinskys mit dem hl. Georg der legendäre Ritter, der den Sieg des christlich-geistigen Prinzips über den Dämon der sündigen Materie symbolisiert. Gut möglich, daß auch er, der Ortsheilige von Murnau und Moskau, bei der Namensgebung Der Blaue Reiter Pate gestanden hat.

Die Ausstellung in Bielefeld erscheint in gewisser Weise intimer als die in Ludwigshafen. Das mag einfach daran liegen, daß sie kleiner ist. Hinzu kommt jedoch, daß die Bielefelder Ausstellungsflächen bewußt einheitlich gehalten sind, und zwar in einem Grün, das Münters Exponat Stilleben mit Buch von 1912 entlehnt ist und auch an die Wiesen um Murnau erinnern soll. Komplett in dieser Farbe ausgeschlagen ist ein kleiner auratischer Raum, der drei großen Bildern Franz Marcs vorbehalten ist. Zu seinen Kühe unter Bäumen, Reh im Wald I und Mädchen mit Katze II wird der ehrfurchtsvolle Besucher von einem Absperrseil auf gut vier Meter Distanz gehalten. In den Tieren aber fand Marc die Unschuld der Schöpfung wieder, welche wir Menschen verloren haben. Daher gemahnt wohl nicht zufällig das Mädchen mit der Katze auf dem Arm in seiner Haltung an die marianische Unschuld des altbayerischen Andachtsbilds Madonna mit dem geneigten Haupt.

Jede der zwei Ausstellungen ist also für sich ohne Abstriche sehenswert; wer aber die Möglichkeit hat, beide zu besuchen, sollte dies unbedingt tun.

Sowohl in Ludwigshafen als auch in Bielefeld gibt es einen etwa viertelstündigen Einführungsfilm.

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