Ausstellungsbesprechungen

Zwischen den Zeilen. Die Kunst von Alice Teichert im Dialog mit dem Mittelalter, Kunsthalle St. Annen Lübeck, bis 15. Oktober 2017

Mit den gotischen Altären und mittelalterlichen Drucken aus dem reichen Bestand der Hansestadt Lübeck setzt sich die europäisch-kanadische Künstlerin Alice Teichert in einer Crossover-Ausstellung auseinander. Stefan Diebitz findet das Mit-, In- und Gegeneinander so verschiedener Kunstkonzepte sehr anregend.

Der Gegensatz zwischen den Arbeiten der 1959 geborenen Alice Teichert und den mittelalterlichen Kunstwerken aus dem St. Annen-Museum könnte kaum größer sein: Ist den alten Werken eine feste Bedeutung eingeschrieben, ist ihre geistige Mitte die Theologie, so wurden diese Beziehungen seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts immer freier, bis sich irgendwann mit der abstrakten Kunst jedes Band zwischen der Welt der Gegenstände und jener der Kunst ganz und gar gelöst hatte. Ein abstraktes Bild kann man unmöglich so interpretieren, wie ein Tafelbild des Mittelalters durchbuchstabiert werden kann, und lässt den Betrachter gewissermaßen aus Grundsatz mit seinen Deutungen und Zumutungen allein. Für Teichert wie wohl für viele andere der heutigen Künstler ist eine »offene Bedeutung« das Ziel ihrer Arbeit, deren Subjektivität eine nicht hinterfragbare Selbstverständlichkeit. Und Sprachlosigkeit ihnen gegenüber ist eine fast notwendige Folge.

In einer Broschüre für die Ausstellung schreibt die Kuratorin Dagmar Täube über die Arbeit Teicherts, es gehe »nicht darum, ihre Bilder zu verstehen, sondern darum, sie zu fühlen.« Das ist eine ziemlich extreme Grundhaltung, die ein Gespräch, ja, die jedes Gespräch über Kunst unmöglich machen würde. Kunst ist unter dieser Voraussetzung auf ein ästhetisches Erlebnis reduziert, das für jeden Betrachter notwendig ein anderes sein muss und mit dem jeder für sich bleibt.

Wie vieldeutig und offen die Arbeiten Teicherts sind, kann man an ihrer Titelgebung sehen. Alice Teichert nämlich führt vorsorglich Listen mit möglichen Titeln, und wenn sie ein Bild fertig gemalt hat, schaut sie in ihnen nach, ob sich ein passender Titel darunter befindet. Ein solcher Titel ist dann wie ein Name, der einem Kind von seinen Eltern gegeben wird: Der Titel sagt nichts, wirklich absolut gar nichts über den Gegenstand oder die Thematik einer Arbeit. So verweigern Teicherts Bilder wirklich jede Antwort auf jede überhaupt nur denkbare Frage, und unter diesen Umständen muss es mehr als kühn sein, eine derart weite Kluft wie die zum Mittelalter überbrücken zu wollen. Kühn heißt vielleicht nicht hoffnungslos, aber man wird schon die Frage stellen dürfen, ob sich die Künstlerin wirklich im vollen Ernst auf den Bedeutungshorizont mittelalterlicher Kunst eingelassen hat.

Der erste Zugang zu einer Interpretation mittelalterlicher Kunst besteht darin, nach den geistigen Wurzeln zu forschen; man muss viel über die Zeit wissen und natürlich die Bibel kennen, und wenn man sehr viel weiß (und wirklich nur dann), dann kann man das tun, was der Altgermanist Friedrich Ohly in einem oft zitierten Aufsatz gelehrt hat, als er die mittelalterliche Bedeutungsforschung konzipierte: Man sucht nach dem vierfachen Schriftsinn, der sich überall findet, in der höfischen Versepik wie in dem Fußbodenprogramm der Kathedrale von Siena oder in einem Altarbild. In seiner einschlägigen Schrift heißt es: »Nach einem dem Mittelalter seit Hieronymus geläufigen Bilde werden auf dem Fundament des Buchstabenverstehens (…) die Wände der Allegorie aufgerichtet, über die sich das Dach des anagogischen Verstehens mit dem Blick ins Jenseits wölbt, während die Farben der Moralitas die Wände (…) von innen und außen zu schmücken haben.«

Ganz im Gegensatz zu Ohly sucht Teichert nicht nach einem gelehrten und letzten Endes spirituellen, sondern nach einem »intuitiven und sinnlichen« Zugang; sie hat die Bilder und Altäre von St. Annen studiert und sich ganz naiv ebenso von den Farben anregen lassen wie von der vielfach anzutreffenden Thematisierung der Schrift. Und mit Schrift ist jetzt nicht die Bibel gemeint, sondern das Buch überhaupt, auch wenn sich im Allgemeinen die Heilige Schrift in den Händen der Figuren befindet. Seit 2008 arbeitet sie an Bildern, deren Gliederung den Aufbau einer doppelten Buchseite nachahmt. In den Worten Täubes: »Sie bestehen, inspiriert durch mittelalterliche Stundenbücher, jeweils aus einer linken Bildhälfte, die eine Farbimpression zeigt, und einer rechten Bildhälfte, die vor allem aus Scribbles, Linien und abstrakten Schriftzeichen besteht.«

Teichert hat sich also mittelalterliche Handschriften angeschaut und die Gestaltung der Seiten übernommen. Ist bei vielen der Inkunabeln die eine Seite illustriert, die andere beschriftet, so findet sich diese Aufteilung auch bei Teicherts Bildern, nur dass diese dann nicht Text bieten, sondern nur so etwas Ähnliches wie Text: Sinnlose Zeichen, die ein Schriftbild imitieren. Und dominiert bei den Farben rot, blau und grün, so hat sie diese Farben ebenfalls übernommen, ohne dass wir etwas über deren Bedeutung erfahren würden – denn eine Bedeutung kam ihnen im Verständnis der Künstler immer zu. Bei Teichert aber sind es wirklich nur die Farben, die beide Seiten verbinden, mehr Gemeinsames gibt es nicht. Es ist, den vielen Zeichen zum Trotz, eine sprachlose Kunst auf dem Weg zur Mystik.

Es sind ihre leuchtenden Farben, für die Teichert bekannt ist, und dank der Sorgfalt ihrer Arbeitsweise besitzen ihre Arbeiten erstaunlicherweise eine gewisse räumliche und damit auch poetische oder künstlerische Tiefe. Es sind bis zu dreißig, teils leicht durchscheinende Bildschichten, mit denen die Künstlerin ihre Bilder bemalt; so sind diese leuchtstark und farbenintensiv und scheinen einen Raum anzudeuten. Hatte bereits Caspar David Friedrich seinem Freund und Kollegen Carl Gustav Carus dazu geraten, Mondlichtbilder zum Rand hin dunkler werden zu lassen, so folgt Teichert auf mehreren Bildern diesem Rezept: das ist ein weiteres Moment, das die Illusion einer gewissen Räumlichkeit sorgt. Auch ist es zu empfehlen, ohne den Blick abzuwenden, langsam an den Bildern vorbeizugehen – sie verändern sich, wenn man eine andere Perspektive einnimmt, und das wird mit ihrer reliefartigen Struktur zu tun haben, vielleicht aber auch mit den vielen, teils transparenten Farbschichten.

Fast alle Bilder dieser Ausstellung sind von Schriftzeichen bedeckt – nein, von Zeichen, die beim ersten Hinsehen den Eindruck einer Schrift hinterlassen, aber in Wahrheit keine Zeichen sind. Das erinnert an den argentinischen Künstler Xul Solar (1887 – 1963), einen engen Freund von Jorge Luís Borges, einem gelehrten Surrealisten, der in ähnlicher Weise sein Spiel mit nur scheinbar bedeutungsvollen Zeichen trieb.

Die Künstlerin konfrontiert uns mit einer Illusion von Schrift und Botschaft, und auch wenn sie sich von der mittelalterlichen Kunst und besonders von der Vielfalt der mittelalterlichen Schriften inspiriert fühlt und an diese anzuknüpfen bemüht ist, so handelt es sich hier zweifellos um einen antagonistischen Gegensatz. Gibt uns die mittelalterliche Kunst eine Antwort, die wir immer noch verstehen, auch wenn wir mit ihr nichts mehr anzufangen wissen, so sind die Schriftzeichen Teicherts wie diejenigen Solars die Parodie einer Botschaft, und man mag angesichts dieser Bilder an Dostojevskij und Camus denken und an deren Parole vom »Schweigen der Welt«.

Der größte Teil der Ausstellung findet sich in den Räumen der Kunsthalle präsentiert, denn die großen Formate und bunten Farben der Moderne vertragen sich gut mit einer rechtwinkligen, leicht ins Parkhausartige spielenden Betonsichtigkeit. Mit den wunderbaren Räumen des alten Klosters dagegen würden sie sich beißen. Nur ein kleiner Teil – stark vergrößerte Fotografien von Details der Altäre – steht im Remter zwischen den prachtvollen Altären.

Besonders erwähnt werden müssen die unglaublich kostbaren Handschriften, die in dieser Ausstellung neben den Arbeiten von Teichert gezeigt werden. Wann hat man schon die Gelegenheit, ein Exemplar des »Sachsenspiegel«, ein wunderbares Stundenbuch, illustriert mit Blattgold und Lapislazuli, oder einen mittelalterlichen Psalter und andere Musiknotationen zu bewundern?

Dazu kommen Schriften und Texte ganz anderer Art: Protokolle wie das Eidbuch des Rates der Stadt oder das ebenfalls handschriftliche Statutenbuch von 1429 einer elitären Gemeinschaft Lübecker Bürger, der »Zirkel-Gesellschaft«. Man glaubt gar nicht, wie viele wirkliche Kostbarkeiten in Archiv und Stadtbibliothek vorhanden sind – und das in einer Stadt, die nicht ganz zu Unrecht als Stadt der Pfeffersäcke gilt.

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