Lyonel Feininger. Retrospektive. Kunsthalle Schirn, Frankfurt, bis 18. Februar 2024

Zu den aktuellen Kunstausstellungen, denen zu Recht das Prädikat „hervorragend“ zukommt, gehört zweifellos die große Feininger-Retrospektive in der Frankfurter Schirn Kunsthalle, die noch bis Mitte Februar besichtigt werden kann. Nachdem seit der letzten großen Feininger-Ausstellung in Deutschland fünfundzwanzig Jahre ins Land gegangen sind, bietet sie die Gelegenheit, sowohl bekannte Schlüsselwerke eines des beliebtesten bildenden Künstlers des 20. Jahrhunderts im Original zu betrachten, als auch Facetten eines Œuvres kennenzulernen, die bisher nicht so sehr im Fokus der Aufmerksamkeit gestanden haben. Rainer K. Wick hat die Ausstellung besucht und den bei Hirmer erschienenen Katalog gelesen – und ist begeistert.

Ausstellungsansicht mit Feiningers Gelmeroda-Bildern, Foto Rainer K. Wick
Ausstellungsansicht mit Feiningers Gelmeroda-Bildern, Foto Rainer K. Wick

Am 25. Oktober 1887 ging der sechzehnjährige Carl Léonell Feininger, der seinen Vornamen später zu Lyonel abwandeln sollte, in Hamburg von Bord eines Schiffes, das aus New York gekommen war. Dort war der junge Mann am 17. Juli 1871 als Sohn deutschstämmiger Eltern, beide Berufsmusiker, geboren worden, nun war er in Deutschland, dem Land seiner Vorfahren, um am renommierten Leipziger Konservatorium Violine zu studieren. Dort musste er erfahren, dass sein Professor auf unbestimmte Zeit außer Landes war. Um die Zeit bis zur Rückkehr seines Lehrers zu überbrücken, besann er sich seines ausgeprägten Zeichentalents, kehrte nach Hamburg zurück und nahm dort für zwei Semester am Unterricht der örtlichen Kunstgewerbeschule teil. Obwohl er zeit seines Lebens musiziert und sogar einige Fugen komponiert hat (dazu im Ausstellungskatalog ein Beitrag von Achim Moeller, Initiator von „Moeller Fine Art Projects | The Lyonel Feininger Project“), entschied er sich damals definitiv gegen das Musikstudium und für die bildende Kunst. Ein Jahr später, 1888, ging er nach Berlin und schrieb sich an der Königlichen Kunstakademie ein, an der er – unterbrochen von einem Zwischenaufenthalt in Belgien – bis 1892 studierte. Ohne akademischen Abschluss reiste er noch im selben Jahr nach Paris, wo er die private Académie Colarossi besuchte, die eine Alternative zum konservativen staatlichen Akademiebetrieb darstellte und deshalb bei progressiv orientierten jungen Künstler:innen sehr beliebt war.

Karikaturist und Illustrator
Seine außerordentlichen zeichnerischen Fähigkeiten ermöglichten dem jungen Feininger seit Mitte der 1890er Jahre eine erfolgreiche Karriere als Illustrator und Karikaturist. Bis 1914 galt er im deutschen Kaiserreich als einer der prominentesten Vertreter seiner Zunft, der für eine Vielzahl von Zeitschriften und Zeitungen tätig war, etwa „Lustige Blätter“, „Ulk“, „Das Narrenschiff“, „Berliner Illustrirte Zeitung“ und andere. Im Jahr 1906 publizierte Feininger in der „Chicago Sunday Tribune“ seine fantastischen Comic-Serien „The Kin-der-Kids“ und „Wee Willie Winkies’s World“ und wurde dafür vom Herausgeber der Zeitung als „populärster Humorzeichner in Deutschlands Hauptstadt“ gepriesen.

links: The Kin-der-Kids, erschienen in „The Chicago Sunday Tribune“, 29. April 1906; rechts: Der weiße Mann, 1907, Foto Rainer K. Wick
links: The Kin-der-Kids, erschienen in „The Chicago Sunday Tribune“, 29. April 1906; rechts: Der weiße Mann, 1907, Foto Rainer K. Wick

Schon 1901 hatte Georg Hermann in seinem grundlegenden Buch „Die Karikatur im 19. Jahrhundert“ Feiningers Schaffen sehr treffend wie folgt charakterisiert: „Der erste von den Berliner Zeichnern ist Lionell [sic!] Feininger; wenn in ihm als einem geborenen Deutsch-Amerikaner auch noch etwas von Yankeetum, Snobbismus [sic!], ein Hang zu burlesker Übertreibung steckt, so hat sich in ihm doch ein eigener typisch-berlinischer Stil herausgebildet. Feininger ist jeder Aufgabe gewachsen, er schafft politische Blätter von monumentaler Wirkung in kräftigen Gegensätzen, […] er überstreut ebenso ein Blatt mit lustigen Figürchen, krausen Einfällen einer spielerischen Zeichenkunst, wie in ihm eine ganz eigene Märchenphantastik von zwingender Komik ruht. […] In ihm steckt ein außerordentliches zeichnerisches Können, ein außerordentliches Formenverständnis.“ Die von Ingrid Pfeiffer exzellent kuratierte Frankfurter Ausstellung zeigt eine Reihe charakteristischer Arbeiten aus dieser frühen Werkphase Feiningers, und der Feininger-Experte Sebastian Ehlert steuert dazu im Katalogbuch einen informativen Beitrag über die zwei Jahrzehnte des Künstlers als „Witzblatt-Zeichner“ (als der er sich rückblickend selbst bezeichnet hat) bei.

Die formativen Jahre
Natürlich lassen sich diese Arbeiten als geschlossener Werkblock eigenen Rechts betrachten. Interessant sind sie aber auch im Hinblick auf die Entwicklung des freikünstlerischen Schaffens Feiningers, in dem anfänglich noch – wie in den Karikaturen und Illustrationen – das Figurative eine maßgebliche Rolle spielte, das später dann aber mehr und mehr in den Hintergrund trat oder sogar gänzlich verschwand. Eines der ersten Hauptwerke Feiningers als Maler ist „Der weiße Mann“ aus dem Jahr 1907, eine direkte Übertragung einer 1906 im französischen Satiremagazin „Le Témoin“ publizierten Feininger-Karikatur des amerikanischen Medien-Tycoons William Randolph Hearst ins Medium der Ölmalerei. Die weiß gekleidete, manieristisch extrem überlängte, schlaksige Figur, die mit einem Fuß den unteren und mit dem Kopf den oberen Bildrand berührt, erscheint vor einem architektonischen Hintergrund, dessen kräftiges Grün-Rot-Kolorit an die Malerei der Fauves erinnert, die zur damaligen Zeit die Pariser Kunstszene aufmischten. Mit seiner zukünftigen zweiten Ehefrau Julia Berg, die seinerzeit an der angesehenen Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule in Weimar (die 1919 im Staatlichen Bauhaus aufging) studierte, verbrachte Feininger 1906/07 einige Monate in Paris, wo beide die oben erwähnte Académie Colarossi besuchten, an der Lyonel schon in den 1890er Jahren einmal eingeschrieben gewesen war.

links: Karneval, 1908; rechts: Aufruhr, 1910, Foto Rainer K. Wick
links: Karneval, 1908; rechts: Aufruhr, 1910, Foto Rainer K. Wick

Die Gemälde „Karneval“ (1908) und „Aufruhr“ (1910) sind typische Beispiele für die noch dem Jugendstil und dann schon dem Expressionismus nahestehenden, figurenreichen Kompositionen, wie Feininger sie in diesen „formativen Jahren“ schuf und in denen scheinbar „nichts zusammen[passt]: Dynamik und Statik, Perspektive und Bewegung“, um die Kuratorin Ingrid Pfeiffer in ihrem Einführungstext zum Katalogbuch zu zitieren. In diesen Jahren, war es Julia, die ihren Mann motivierte, sich vom finanziell durchaus einträglichen Brotberuf als Illustrator und Karikaturist zu verabschieden und verstärkt der freien Kunst zuzuwenden. 1909 wurde der Künstler Mitglied der Berliner Secession, 1911 stellte er im Pariser Salon des Indépendants aus. Damals kam er in der französischen Hauptstadt mit dem Kubismus in Berührung, auch lernte er den Orphismus Robert Delaunays kennen – Eindrücke, die für sein weiteres künstlerisches Schaffen bedeutsam werden sollten, auch wenn er immer auf seiner Eigenständigkeit bestanden und sich von den Kubisten und insbesondere von Delaunay abzugrenzen versucht hat. Dazu gehörte auch, dass er den Begriff „Kubismus“ möglichst vermied und für seine ab 1912/13 facettenartig gegliederten, prismatisch aufgebrochenen Kompositionen den Begriff „Prismaismus“ bevorzugte.

1912 entstand „Die Radfahrer (Radrennen)“, ein Bild, das nicht nur von Feiningers persönlicher Leidenschaft für das Radfahren zeugt, sondern auch insofern richtungsweisend ist, als der Künstler hier seine noch vom Jugendstil geprägte Karikatur einer Gruppe über die Lenkräder gebeugter Radrennfahrer (erschienen 1908 in der Zeitschrift „Das Schnauferl. Blätter für Sporthumor“) in eine Komposition überführt hat, deren streng geometrisierende Bildsprache ihn zu einem Hauptvertreter der klassischen Moderne werden ließ.

links: Die Radfahrer (Radrennen), 1912 rechts: Selbstbildnis, 1915, Foto Rainer K. Wick
links: Die Radfahrer (Radrennen), 1912 rechts: Selbstbildnis, 1915, Foto Rainer K. Wick

In diesen Zusammenhang gehört auch das formal und farblich ungewöhnliche „Selbstbildnis“ (1915), ein Dreiviertelporträt vor gotisierenden Fensteröffnungen, bei dem es dem Künstler offenbar nicht um äußere Porträtähnlichkeit oder gar um ein Idealbild seiner selbst ging, sondern eher darum, dem Betrachter mit – Zitat Feininger – „Selbstironie“ und dem „Inkognito einer Maske“ entgegenzutreten. Inzwischen befand sich der Künstler auf der Erfolgsspur. 1913 wurden fünf seiner Bilder beim Ersten Deutschen Herbstsalon in Berlin gezeigt, darunter „Die Radfahrer“. 1916 stellte Herwarth Walden vier Feininger-Gemälde in seiner Berliner Avantgardegalerie „Der Sturm“ aus, und 1917 präsentierte die Sturm-Galerie mit etwas mehr als hundert Werken – Gemälden, Aquarellen und Zeichnungen – die erste Einzelausstellung des Künstlers, mit der ihm in Deutschland der künstlerische Durchbruch gelang.

Leviathan
1917, drei Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, entstand eines der bemerkenswertesten Gemälde des Künstlers, das in seinem Œuvre in verschiedener Hinsicht eine Sonderstellung einnimmt und mit dem geläufigen Image Feiningers als Maler kristallin klarer Kompositionen kaum zu vereinbaren ist: „Leviathan (Dampfer Odin I)“. Dargestellt ist ein in Schieflage befindliches, vielleicht schlingerndes oder sogar kenterndes Dampfschiff, das eine den Eindruck von Dramatik evozierende diagonale Bildachse bildet. Gerahmt wird das Schiff am rechten und linken Bildrand von zwei überproportional gelängten Figuren, von denen die linke wie gepanzert aussieht. Fern naturalistischer Marinemalerei hat Feininger alle gegenständlichen Formen – und damit das Bildganze gleichsam einheitlich organisierend – in splittrige Facetten, in spitze Keilformen aufgelöst, wie es für den analytischen Kubismus à la Picasso und Braque typisch ist. Hinzu tritt der Einfluss des italienischen Futurismus, und zwar dort, wo gekrümmte Linienverläufe zur dynamischen Steigerung des ohnehin schon bewegten Formgefüges beitragen. Rätselhaft erscheint der Bildtitel.

Leviathan (Dampfer Odin I), 1917, Foto Rainer K. Wick
Leviathan (Dampfer Odin I), 1917, Foto Rainer K. Wick

„Odin“ hieß im Kaiserreich ein Salonschnelldampfer, von dem Feininger schon im Jahr 1912 anlässlich einer seiner regelmäßigen Reisen an die Ostsee einige lockere Skizzen, bekannt geworden als „Natur-Notizen“, angefertigt hatte. Nun griff er auf dieses Material zurück, allerdings nicht, ohne es grundsätzlich umzugestalten. Inzwischen waren die USA Kriegspartei geworden, und der Maler machte aus dem harmlosen Personendampfer ein martialisch anmutendes technisches Monstrum. Vor dem Hintergrund des Kriegsgeschehens, zu dem ein erbitterter Seekrieg gehörte, bot es sich an, den Namen des Schiffes als Bildtitel beizubehalten, bezeichnet Odin in der germanischen Mythologie doch den Göttervater, der zugleich als Kriegs- und Totengott figurierte. (Übrigens gab es in der kaiserlichen Kriegsmarine auch ein Küstenpanzerschiff mit demselben Namen.) Doch das Gemälde erhielt noch einen zusätzlichen, die Bildaussage akzentuierenden Titel: Leviathan – im Judentum ein mythisches Seeungeheuer, im Christentum ein Dämon, der die Sünder beim Jüngsten Gericht verschlingt. Es ist sicherlich nicht ganz abwegig, dieses im Werkschaffen Feiningers singuläre Bild als Hinweis auf die persönliche Betroffenheit des Künstlers angesichts eines mörderischen Krieges zu deuten, in den nicht nur das von Feininger inzwischen liebgewonnene Deutschland, sondern auch sein Heimatland involviert waren.

Gelmeroda
Im Zentrum der großartigen und mit hochkarätigen Leihgaben bestückten Frankfurter Ausstellung stehen fünf von mehr als zehn Gemälden aus der berühmt gewordenen Serie, die thematisch um die bescheidene, im Kern mittelalterliche Dorfkirche in Gelmeroda in der Nähe von Weimar kreist. In Serien zu arbeiten war spätestens seit Claude Monets Gemälden der Kathedrale von Rouen oder dessen Heuhaufen-Bildern ein charakteristisches Signum der Moderne. Ähnlich verhielt es sich bei Feininger, der schon früh – 1906 – die Kirche mit ihrem schlanken Turmhelm als Motiv entdeckte und sich dann über Jahrzehnte daran abarbeitete.

links: Gelmeroda II, 1913; Mitte: Gelmeroda III, 1913; rechts: Gelmeroda VIII, 1921, Fotos Rainer K. Wick
links: Gelmeroda II, 1913; Mitte: Gelmeroda III, 1913; rechts: Gelmeroda VIII, 1921, Fotos Rainer K. Wick

Bereits 1908 erschien dieses Motiv als Titelbild auf dem Umschlag der erwähnten Zeitschrift „Das Schnauferl“, 1913 entstand das erste große Gemälde in einem dramatisch aufgeladenen, kubo-expressionistischen Stil (nicht in der Ausstellung), gefolgt von „Gelmeroda II“, ebenfalls 1913. Hinsichtlich des Kolorits wird das Bild von schwefligem Gelb dominiert, der Kirchturm und die ihn flankierende große, facettenartig aufgelöste Tanne kippen nach rechts und verleihen der Komposition eine Dynamik, die aber schon wenig später in „Gelmeroda III“ (1913) vollständig zum Stillstand kommt. Mit dieser geometrisch gebauten, streng gegliederten Komposition schuf Feininger gewissermaßen die Blaupause für seine späteren Fassungen des Motivs wie etwa „Gelmeroda VIII“ (1921) oder das herausragende, leider in Frankfurt nicht ausgestellte Gemälde „Gelmeroda IX“ (1926) – Bilder, in denen die kleine thüringische Dorfkirche eine Steigerung zu einem monumentalen Gotteshaus, zu einer „mächtigen Kathedrale“ (Ingrid Pfeiffer) und zum Symbol einer neuen Spiritualität erfuhr. Das letzte Gemälde aus der Gelmeroda-Serie schuf Feininger 1936 („Gelmeroda XII“), also ein Jahr, bevor er aus Deutschland ausreiste und mit seiner Frau Julia in die USA übersiedelte. Es war ein Sujet, das ihn bis zu seinem Lebensende nicht losließ. Davon zeugt in der Ausstellung neben zahlreichen „Natur-Notizen“ und Holzschnitten eine formal radikal reduzierte Gelmeroda-Lithografie, die 1955, kurz vor dem Tod des Künstlers, in den USA entstand und von Feiningers Liebe zu und Sehnsucht nach dem alten, „romantischen“ Deutschland zeugt.

links: Zirchow VII, 1918; rechts: Gaberndorf (I), 1921, Fotos Rainer K. Wick
links: Zirchow VII, 1918; rechts: Gaberndorf (I), 1921, Fotos Rainer K. Wick


Dass dieses romantische Deutschland auf den Maler eine große Faszination ausübte, belegen in der Ausstellung auch etliche Stadtansichten – besonders eindrucksvoll etwa „Zirchow VII“ aus dem Jahr 1918. Obwohl Feininger prinzipiell am Gegenständlichen festhielt, verzichtete er auf topographische Genauigkeit und architektonische Einzelheiten und transformierte die ortsprägende, gedrungene Evangelische St. Jakobus-Kirche und ihre Umgebung in ein geometrisch klar gegliedertes, abstraktes Formgebilde von monumentaler Wirkung. Schon 1907 hatte er geschrieben, dass das „Gesehene […] innerlich umgeformt und crystalisiert [sic!] werden“ müsse. Während das ein Jahr zuvor entstandene Bild „Leviathan“ mit seinen kleinteiligen, splittrig fragmentierten Formen zerrissen und gleichsam aufgewühlt erscheint, näherte sich Feininger hier trotz der leichten Schrägen jener von ihm angestrebten „vollkommenen Ruhe der Gegenstände“, die er einmal in einem Brief an Alfred Kubin beschworen hat. Tendenziell dasselbe gilt für das Gemälde „Gaberndorf (I)“ von 1921, heute ein Stadtteil von Weimar, dessen kristalline Bildstruktur auf dem Dreieck als dem formbestimmenden Grundmotiv beruht.

Bauhaus
Dass Walter Gropius im Frühjahr 1919 Lyonel Feininger als ersten „Meister“ an das frisch gegründete Staatliche Bauhaus in Weimar berief – inauguriert im Zuge der sogenannten Kunstschulreform als „Einheitskunstschule“ aus Kunstakademie und Kunstgewerbeschule –, war alles andere als zufällig. Die beiden Männer hatten sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im sozialrevolutionär grundierten Berliner „Arbeitsrat für Kunst“ kennengelernt, und als Architekt dürften Gropius die Gemälde Feiningers mit ihren streng gestalteten architektonischen Motiven unmittelbar angesprochen haben. Im Gründungsmanifest des Bauhauses heißt es: „Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau. […] Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! […] Denn es gibt keine ‚Kunst von Beruf‘. […] Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers. […] Bilden wir […] eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung, die eine Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte! Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei […].“

Manifest des Staatlichen Bauhaus Weimar mit Feiningers Holzschnitt „Kathedrale“, 1919, Foto Rainer K. Wick
Manifest des Staatlichen Bauhaus Weimar mit Feiningers Holzschnitt „Kathedrale“, 1919, Foto Rainer K. Wick

Es war Feininger, der sich seit kurzem intensiv mit den technischen und gestalterischen Möglichkeiten des Holzschnitts befasst hatte und nun für das Bauhaus-Gründungsmainfest den legendären Titelholzschnitt „Kathedrale“ schuf. Zweifellos spielte bei der Namensgebung des Bauhauses der Gedanke an die mittelalterlichen Bauhütten, die im gemeinschaftlichen Zusammenwirken von Baumeistern, Bildhauern, Malern und Handwerkern die gotischen Gotteshäuser hatten emporwachsen lassen, eine maßgebliche Rolle. Feiningers im kubo-expressionistischen Stil gestalteter Kathedral-Holzschnitt ist der künstlerisch anspruchsvolle Versuch einer prägnanten Visualisierung dieses Gedankens und damit der Programmatik des frühen Bauhauses, das im Laufe seiner Existenz allerdings mehrere, hier nicht zu erörternde Kurswechsel erlebte. Die Sternenstrahlen über und hinter der Kathedrale, deren Hauptturm nach üblicher Lesart für die Architektur steht und deren flankierende Türme Plastik und Malerei symbolisieren, beschwören als utopisches Ziel eine neue, bessere, lichterfüllte Zeit. Zu erfahren, dass die Realität eine andere war, blieb Feininger, der dem Bauhaus vom ersten bis zum letzten Tag angehörte, allerdings nicht erspart. Die Bauhaus-Expertin Ute Ackermann hat im Katalogbuch zur Frankfurter Ausstellung dem „ikonischen Bild“ der „Bauhaus-Kathedrale“ und dessen Entstehung einen erhellenden Aufsatz gewidmet.
Gemäß der Maxime, dass die Kunst im Handwerk zu fundieren sei, ja, dass jeder Schüler eine regelrechte handwerkliche Lehre zu absolvieren habe, kam den Werkstätten am Bauhaus eine zentrale Bedeutung zu. Geleitet wurde in Weimar jede Werkstatt von einem Künstler, genannt Formmeister, und einem sogenannten Werkmeister, der die Verantwortung für die Vermittlung handwerklich-technischer Fähigkeiten hatte. Obwohl inzwischen als avantgardistischer Maler etabliert und mithin durchaus für den Malunterricht prädestiniert (den es am frühen Bauhaus aber nur in Form der Wandmalerei gab), übernahm Lyonel Feininger vor dem Hintergrund seiner intensiven Beschäftigung mit der Druckgrafik, seit 1918 insbesondere mit dem Holzschnitt, als Formmeister die künstlerische Leitung der Bauhaus-Druckerei. Das bedeutete nicht, dass er nach einem strengen Lehrplan unterrichtete und sich als „Schulmeister“ gerierte, sondern dass er gewissermaßen als Coach die Studierenden bei deren eigenen Projekten, die sie nach dem Prinzip „learning by doing“ erledigten, begleitete und unterstütze. In seine Zeit als Formmeister der Weimarer Druckwerkstatt fiel das Erscheinen von fünf umfangreichen Mappenwerken unter dem Titel „Neue europäische Graphik“, auch wurden in der Bauhaus-Druckerei Feiningers eigene Holzschnitte gedruckt, die in Frankfurt in großer Zahl zu sehen sind.
Mit dem Exodus des Bauhauses aus Weimar im Jahr 1925 und der Übersiedlung der Schule nach Dessau ergab sich für Feininger eine neue Situation. Walter Gropius konnte ihn dazu bewegen, auch ohne Präsenz- und Lehrverpflichtungen weiterhin dem Bauhaus anzugehören, das heißt, ohne Bezahlung, aber mit Gratiswohnrecht in einem der neuen, vom Bauhaus-Direktor entworfenen Meisterhäuser, seinen Status als „Meister“ beizubehalten. Ideale Bedingungen für den Maler, der sich nun ausschließlich seiner freikünstlerischen Arbeit widmen konnte.

Halle-Bilder
Zu den Früchten dieser privilegierten Sonderstellung gehören unter anderem die sogenannten Halle-Bilder, auf die Barbara Leven in ihrem Katalogbeitrag näher eingeht. 1929 hatte Feininger von der Stadt Halle an der Saale den Auftrag erhalten, eine Halle-Ansicht, zu malen. Im Torturm der halleschen Moritzburg, dem städtischen Kunstmuseum, wurde ihm dazu ein Atelier eingerichtet. Der Auftrag entwickelte sich zu einem Langzeitprojekt. Feininger blieb zwei Jahre. In dieser Zeit entstanden anstatt eines einzigen Bildes elf große Leinwände und mehr als hundert Zeichnungen. Damals hatte Feininger für sich selbst als neues Medium die Fotografie entdeckt, die am Bauhaus zunächst unter László Moholy-Nagy und später unter Walter Peterhans eine prominente Rolle spielte. Sein jüngster Sohn Lux aus der Ehe mit Julia war schon als Bauhaus-Schüler leidenschaftlich als Fotograf unterwegs, und sein ältester Sohn Andreas wurde vor allem in den USA zu einem der bedeutendsten Fotografen des 20. Jahrhunderts. Lyonel erkundete also mit Zeichenstift und Fotoapparat die Altstadt von Halle mit ihren Plätzen, engen Gassen und mittelalterlichen Bauwerken, unter denen die Marienkirche (auch Marktkirche), der in unmittelbarer Nähe befindliche Rote Turm am Markt wie auch der Dom besonders hervorstechen. Die so gewonnenen Wahrnehmungseindrücke übertrug er zunächst in abstrahierende Kohlezeichnungen und letztlich in streng geometrisch komponierte Ölgemälde von prismatischer Klarheit und intensiver Farbigkeit.

links: Ausstellungsansicht mit „Dom in Halle“, 1931; rechts: Marienkirche mit Pfeil, 1930, Fotos Rainer K. Wick
links: Ausstellungsansicht mit „Dom in Halle“, 1931; rechts: Marienkirche mit Pfeil, 1930, Fotos Rainer K. Wick


Einen Sonderfall innerhalb dieses Werkkomplexes stellt das in Frankfurt ausgestellte Gemälde „Marienkirche mit dem Pfeil“ von 1930 dar. Anders als in einigen Bildern dieser Serie, in denen sich die Architektur gleichsam in gläsern-diaphane Strukturen aufzulösen scheint und dadurch leicht, fast schwerelos anmutet, sieht sich der Betrachter hier mit der dunklen, silhouettenhaften Masse des gotischen Kirchengebäudes konfrontiert, das auf der rechten Seite vom kompakt aufragenden Roten Turm und auf der linken Seite von einem nach oben gerichteten hellen Pfeil flankiert wird. „So strebt die Kirche, trotz ihrer dunkel-materiellen Ausführung, nach oben, steigt von der Erde auf in geistige Regionen“, wie Wolfgang Büche in seiner im Jahr 2000 erschienen Monografie über die Halle-Bilder schreibt. Denkbar wäre, dass das im Œuvre Feiningers singuläre Pfeil-Motiv als Reflex eines spezifischen gestaltungstheoretischen Diskurses am Bauhaus einzuordnen ist. Paul Klee, der am Bauhaus in Fragen der Grundlagen der Gestaltung als Autorität galt, hat sich in seiner eigenen künstlerischen Praxis wie auch in seinem Unterricht („Bildnerische Formenlehre“) eingehend mit dem Pfeil als „Symbol der Bewegungsform“ auseinandergesetzt. Letztlich gelangte er zu der Erkenntnis, dass der Pfeil als Symbol „nur eine allgemein getroffene und gültige Übereinkunft [ist] und […] in einer mit Symbolen arbeitenden Kunst ihren Platz finden [mag]. Aber ein Symbol ist für sich noch keine bildnerische Gestaltung. Dies Zeichen einer assoziativen Übereinkunft muß also überwunden werden; es muß also ohne den Pfeil gehen.“ Um dem „Empor zu Gott“, das heißt, dem Transzendenzstreben der Gotik, Nachdruck zu verleihen, kam Feininger in seiner „Marienkirche mit dem Pfeil“ allerdings zu einem anderen Schluss.

Strandbilder und Seestücke
Spirituell aufgeladene Orte mit mittelalterlichen Kirchen gehörten zu Feiningers bevorzugten Bildmotiven. Daneben nahmen im Schaffen des Künstlers Bilder, die sich thematisch auf den Strand, die Dünen und das Meer bezogen, einen breiten Raum ein. Jährlich hielt er sich in den Sommermonaten an der Ostsee auf: Rügen, Graal, Heringsdorf, Deep. Hier entstanden zahllose „Natur-Notizen“, die die Grundlage für größere Gemälde mit Strandszenen und elegant dahingleitenden Segelbooten lieferten. Im Unterschied zum dramatisch inszenierten, martialisch daherkommenden „Dampfer Odin“ von 1917 herrscht in diesen ausgewogenen Kompositionen zuweilen so etwas wie göttliche Ruhe, scheint die Zeit still zu stehen, und in den Strandbildern erkennt die Kuratorin Ingrid Pfeffer „in ihrer geheimnisvollen Leere und mit den wie Puppen am Strand liegenden ‚Körpern‘ eine seltsame, fast surreale Stimmung“. Und natürlich drängt sich erneut der Bezug zur Romantik auf, ganz besonders bei Betrachtung des Gemäldes „Düne am Abend“ von 1936, das fast reflexartig Caspar David Friedrichs berühmtes Bild „Mönch am Meer“ vor dem inneren Auge auftauchen lässt.

links: Badende am Strande (V), 1915; rechts: Düne am Abend, 1936, Fotos Rainer K. Wick
links: Badende am Strande (V), 1915; rechts: Düne am Abend, 1936, Fotos Rainer K. Wick

„Düne am Abend“ gehört mit zu den letzten Gemälden, die Feininger in Deutschland schuf. 1932 hatten die Nationalsozialisten in der Dessauer Stadtversammlung die Mehrheit errungen und erwirkten die Schließung des Bauhauses. Ludwig Mies van der Rohe, der dritte Bauhaus-Direktor nach Walter Gropius und Hannes Meyer, führte das Bauhaus noch für wenige Monate in Berlin-Steglitz als Privatinstitut weiter, bevor es im Sommer 1933 auf Druck der Nationalsozialisten endgültig geschlossen wurde. Feininger musste nun das von ihm nach wie vor bewohnte Meisterhaus in Dessau aufgeben und zog in eine kleine Wohnung in der kurz zuvor errichteten Großsiedlung Berlin-Siemensstadt, einer modernen Neubausiedlung im Stil des sogenannten Neuen Bauens, wie er sie schon 1932 in seinem magisch anmutenden Gemälde „Beleuchtete Häuser“ dargestellt hatte. Möglicherweise sind hier Seherfahrungen einflossen, die er um 1928 bei fotografischen Aufnahmen der Dessauer Bauhaus-Bauten bei Nacht gewonnen hatte.

links: Meisterhaus in Dessau, 1928; rechts: Beleuchtete Häuser, 1932, Foto Rainer K. Wick
links: Meisterhaus in Dessau, 1928; rechts: Beleuchtete Häuser, 1932, Foto Rainer K. Wick


In der Weimarer Republik respektiert, ja gefeiert und mit großen Einzelausstellungen geehrt, geriet er im „Dritten Reich“ in die Mühlen der nationalsozialistischen Kunstdiktatur und musste erleben, dass seine Kunst diffamiert und ab Juli 1937 in der Münchner Schandausstellung „Entartete Kunst“ an den Pranger gestellt wurde. Einen Monat vorher verließ der Künstler mit seiner Frau Julia, die als Jüdin zunehmend gefährdet war, das „alte, so geliebte Deutschland“ – O-Ton Feininger – in Richtung USA, fast fünfzig Jahre, nachdem er 1887 in Hamburg angekommen war.

Spätwerk in den USA
Inzwischen war Feininger sechsundsechzig Jahre alt und in den USA als Künstler kaum bekannt. Amerika hatte sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert, das Land war ihm fremd geworden. In Deutschland hatte er als „Amerikaner“ gegolten (der er auch war, da er nie die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hatte), nun wurde er für einen deutschen Maler gehalten (dazu der Katalogbeitrag von Gloria Köpnick). In New York nahm er nach einer längeren Phase der Akklimatisierung seine zwischenzeitlich fast zum Erliegen gekommene künstlerische Arbeit wieder auf. Dabei knüpfte er einerseits an seine mehrere tausend aus Deutschland mitgebrachten „Natur-Notizen“ an, die ihm zu einem Fundus der Erinnerung wurden, andererseits nahm er sich aber auch für ihn neuer Motive wie der amerikanischen Hochhausarchitektur an.

links: Manhatten I, 1940; rechts: Blick auf New York, um 1950-1955, Fotos Rainer K. Wick
links: Manhatten I, 1940; rechts: Blick auf New York, um 1950-1955, Fotos Rainer K. Wick

Repräsentative Beispiele sind in der Frankfurter Ausstellung etwa „Manhatten I“ (1940) oder „Blick auf New York“ (um 1950-1955). Gegenüber den prismatisch klaren, kristallin präzisen Kompositionen der späten Zehner bis mittleren Dreißiger Jahre ist ein tiefgreifender Stilwandel unverkennbar. Die amerikanischen Skyscraper erscheinen bei Feininger nicht monumental und tektonisch stabil, sondern fragil, ja geradezu ruinös. Ob es sachgerecht ist, darin psychologisch einen Hinweis auf die Befindlichkeit des alternden Künstlers im Großstadtdschungel der nordamerikanischen Metropole zu sehen, mag dahingestellt bleiben. Ein abschließender Blick auf das in den Fünfziger Jahren entstandene Werk „Der alte Mann im Wald“, die düstere, in erloschenen Farben gehaltene Darstellung eines dunkel gekleideten, einsamen Herren mit schwarzem, längst unmodern gewordenen Zylinder, zwischen kahlen Bäumen und nur von einem spärlichen Lichtstrahl beleuchtet, könnte geeignet sein, diese These zu stützen. Am 13. Januar 1956 starb Lyonel Feininger mit vierundachtzig Jahren in seiner Geburtsstadt New York.

Der alte Mann im Wald, 1950-1955, Foto Rainer K. Wick
Der alte Mann im Wald, 1950-1955, Foto Rainer K. Wick


Es ist das Verdienst der großen Schau in Frankfurt, die übrigens auch von Feininger gestaltetes Kinderspielzeug zeigt sowie Einblicke in sein fotografisches Œuvre erlaubt (über das Franziska Lampe für den Katalog geschrieben hat), dass sie das in Deutschland kaum bekannte, immer stärker zur Abstraktion, manchmal sogar zur Gegenstandslosigkeit tendierende Spätwerk des Künstlers berücksichtigt. Vertiefen lässt sich der Besuch dieser begeisternden Ausstellung durch die Lektüre des bei Hirmer erschienenen, ansprechend gestalteten und erkenntnisfördernden Katalogbuches.


Katalog
Lyonel Feininger. Retrospektive
hrsg. von Ingrid Pfeiffer, mit Beiträgen von Ute Ackermann, Sebastian Ehlert, Anna Huber, Gloria Köpnick, Franziska Lampe, Barbara Leven, Achim Moeller und Ingrid Pfeiffer sowie einem Vorwort von Sebastian Baden
deutsche und englische Ausgabe
272 Seiten, 220 Abbildungen, 24 x 29 cm, Hardcover
Hirmer Verlag, ISBN 978-7774-4177-1 (deutsche Ausgabe), 978-7774-4178-8 (englische Ausgabe)
39 € (Schirn), 49,90 € (Buchhandel)

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