Paula Modersohn-Becker, in Worpswede war sie nur die »Paula«. Also ob jemals ein Kunstkritiker über »Pablo« (Picasso) oder »Paul« (Cezanne) geschrieben hätte. Auch das Biopic von Christian Schwochow –bestes Popcornkino, ganz ohne Frage – heißt »Paula«. Paula – jetzt als Ausstellung, titelte die BILD-Zeitung. Andrea Richter hat sich die Hamburger Ausstellung, die noch bis zum 1. Mai 2017 zu sehen ist, mit Bildern und Zeichnungen von Paula Modersohn-Becker angesehen.
Paula, die Künstlerrebellin, ein hochemotionales, teils irrationales Wesen, das seine genialischen Eingebungen »aus der Empfindung heraus« erlangte. Die Frau als Verkörperung des Gefühls in absentia ratio. Der Kunsthistoriker Richard Hamann spottete 1925, ihr Werk sei »ein gemalter Schrei nach dem Kinde« der Autor der »Malerei im 20. Jahrhundert«, Werner Haftmann, schwadronierte 1948, sie habe »Liebe über den Kern der Dinge gelegt«. Die feministische Kunstgeschichte feierte sie entgegen aller Schmährufe als Ikone.
Der Kurator der Hamburger Ausstellung Uwe Schneede will weg von diesen Stereotypen. Paula Modersohn-Becker, so seine Einschätzung, sei als Wegbereiterin der Moderne niemals angemessen gewürdigt worden. Ihre Rezeptionsgeschichte zeige, dass sie lange als die Kinderbildmalerin aus dem kleinen Künstlerdorf Worpswede rezipiert worden sei. »Dabei wollte sie doch immer weg von dort.« Internationale Bedeutung habe die 1907 verstorbene Künstlerin erst posthum, mehr als hundert Jahre nach ihrem Tod, erlangt. Mit der großen Ausstellung im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris im vergangenen Jahr habe er endlich das Gefühl gehabt, »sie sei angekommen.«
Dass Paula Modersohn-Becker Zeit ihres künstlerischen Schaffens eine strenge Methodikerin war, die konzeptuell an ihre Arbeiten heranging, will das Bucerius Kunst Forum verdeutlichen. Schneedes Anliegen ist es, den Blick der Ausstellungsbesucher*innen auf Bildmittel und Methoden der Künstlerin zu lenken und damit ihre künstlerische Entwicklung nachvollziehbar zu machen.
Das Hamburger Museum zeigt sechzig Gemälde, Landschaften, Kinder, Worpswede, Stillleben, Bildnisse und Selbstbildnisse, dazu 20 Zeichnungen, alle in motivischen Gruppen gehängt. Von kleinen Studien bis zum großformatigen »Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag« von 1906, dem ersten weiblichen Akt, der von einer Künstlerin gemalt wurde, einem Selbstporträt als Schwangere, mit nacktem Oberkörper, einem Tuch um die Hüften und einer Bernsteinkette um den Hals.
Die Schau erstreckt sich über zwei Stockwerke auf 730 Quadratmetern, den Arbeiten wird damit viel Raum gegeben. Im Erdgeschoss: die Motivgruppen Landschaften, Kinder, Worpswede. Auf der zweiten Etage: Selbstbildnisse, Bildnisse und späte Zeichnungen. Die Wände sind auf beiden Etagen in Steingrau gehalten. Die leuchtenden Farben des Spätwerks kommen dadurch hervorragend zur Geltung, denn das Grau kommentiert nicht, es nimmt sich zurück und verstärkt dadurch die intensiven Farben der Stillleben und Selbstbildnisse. Im Erdgeschoss hingegen, dort wo die Birken im Moor und Worpsweder Fischerkaten vor dunklen Wolken zu sehen sind, betont die Wandfarbe den Eindruck der düsteren, erdenschweren norddeutschen Dorfimpressionen. Selbst das »Abendliche Fest in Worpswede« von 1903, das ohnehin eher an eine Beerdigungsfeierlichkeit, denn an eine fröhliche Feier erinnert, so starr und unbewegt wirkt die Zusammenkunft der in langen dunklen Gewändern und weißen Kleidern, wie Leichenhemden, gemalten Gäste. Auf Grau scheinen die dargestellten Personen noch eine Spur trauriger, noch einsamer, obwohl sie eine Gruppe bilden. Vor dieser Kulisse wirken Paula Modersohn-Beckers Fluchtgedanken nur zu verständlich. Das Heimelige, Heimatliche, Dorftümelnde, das zwanghafte Festhalten an Traditionen und überkommenen Werten waren ihr eher zuwider. Sie fühlte sich angezogen, von dem, was sie »das Merkwürdige« nannte. Damit, so Kurator Schneede, sei ihr Aufstand gegen alles Geläufige, und vor allem gegen den Akademismus, wie den oberflächlichen Realismus gemeint. »Liebermann, Mackensen und Konsorten«, so fand sie, »sie stecken noch viel zu sehr im Konventionellen. Unsere ganze deutsche Kunst.«
Das Interesse der Künstlerin galt dem Abweichenden, dem Anderen, der magischen Wirkung noch nicht gesehener Farb- und Formenkonstellationen. Das, was ihr fremd war, inspirierte sie. In Paris traf sie auf die beginnende Moderne, die Welt der großen Kunst: »Paris ist für mich die Stadt. Schön und sprudelnd und gährend und man selbst taucht ganz darin unter.«
Zwar fand sie viele ihrer Motive in der ländlichen Idylle bei Bremen, doch ihren Stil entwickelte sie in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten Cezannes, Rodins, Camille Claudels, deren Ateliers sie während ihrer wiederholten Aufenthalte in der französischen Metropole besuchte und deren Malweisen sie studierte. Sie entwickelte die ihr eigene Bildsprache zu einer Zeit, als in Deutschland noch dem Realismus gehuldigt wurde. Während die Worpsweder Künstlerkollegen danach strebten, die Natur mittels genauem Studium möglichst ähnlich abzubilden, arbeitete Modersohn-Becker konzeptueller. In der Darstellung ihr bekannter Menschen und Objekte strebte sie die Einfachheit der Form, die größtmögliche Reduktion an, um »zum Wesentlichen der Dinge zu kommen.« Das Maskenhafte, das die Gesichter der von ihr Porträtierten dadurch bekamen, war eine strategische Maßnahme. In Picassos Worten: »die Ablehnung jeglicher Nachahmung«. Die Maske evoziert Fremde (das »Merkwürdige«) und ist damit die für die Moderne bezeichnende revolutionäre Absage an die Ähnlichkeit des Bildes, die Verweigerung des bloßen Abbilds und der Möglichkeit zur direkten Identifikation.
In der Ausstellung zu sehen sind auch zwei Monotypien, die beinahe wie Totenmasken wirken, das »Selbstbildnis mit Hand am Kinn« (1906), auf Zeitungs- und liniertem Papier. In diesen beiden späten kleinformatigen Arbeiten scheint ihr zehnjähriges Schaffen auf den Punkt gebracht. Nicht nur diese kleinen Pretiosen, auch der sorgfältig gemachte Katalog mit substantiellen Beiträgen zu Ikonographie und Methode bringen Licht ins Dunkel bisheriger Modersohn-Becker Rezeption.
Kurator Uwe M. Schneede, der bereits 2011 mit einer Gerhard Richter Ausstellung im Bucerius Kunst Forum Furore machte, gelingt eine überzeugende Hommage an eine Malerin, die lange von Kunstgeschichte und Kritik verkannt wurde. Befreit von Ressentiments und Kitsch ihrer bisherigen Rezeptionsgeschichte wird nachvollziehbar, warum Paula Modersohn-Becker ein wichtiger Platz als Wegbereiterin der Moderne gebührt.