Ausstellungsbesprechungen

Die Peredwischniki – Maler des russischen Realismus, Kunstsammlungen Chemnitz, bis 28. Mai 2012

Zerlumpte, erbarmungswürdige Gestalten, die vom Ufer aus ein Schiff über die Wolga ziehen — ob aus dem Kunstunterricht, von unzähligen Reproduktionen oder den Ausstellungsplakaten, die »Wolgatreidler« (1870-73) von Ilja Repin sind vielen ein Begriff. Nicht so die bedeutende russische Sezessionsbewegung, der er angehörte. Mit 90 ausgestellten Werken leisten die Chemnitzer Kunstsammlungen hier Entwicklungsarbeit. Rowena Fuß war überwältigt.

Als Paradebeispiel steht Repin für eine Malerei am Scheideweg. Mitte des 19. Jahrhunderts machten sich Künstler europaweit daran, die in Form und Inhalt erstarrte traditionelle Akademiemalerei zu überwinden. Ihre Mittel: Der Realismus und die Freilichtmalerei. In Russland waren es vor allem die 41 Künstler der „Gesellschaft der künstlerischen Wanderausstellungen“ (Peredwischniki), die die neue Kunstauffassung verbreiteten.

Gleich am Eingang des linken Galerienflügels hängt das programmatische Bild »Der Recke am Scheideweg« (1882) von Wiktor Wasnezow. Zu sehen ist der sagenhafte Held Ilja Muromez auf seinem Pferd. Er steht vor einem Runenstein, der demjenigen den Tod verheißt, der weitergeht. Der tapfere Recke ließ sich, laut Legende, davon natürlich nicht einschüchtern und rettete die Stadt Kiew trotzdem vor den Tartaren. Das Bild demonstriert überdies ein Phänomen, das die Peredwischniki von ihren westeuropäischen Kollegen unterscheidet: Sie machen nationale und religiöse Themen zu Motiven ihrer Bilder, während Courbet, Menzel & Co Begräbnisse, Steinklopfer oder Eisenwalzwerke darstellen. Die Gemälde der Peredwischniki erzählen hingegen vom Krieg, von Aufstand, sozialen Missständen, aber auch von Geistesgrößen und Tradition.

Förmlich widerzuhallen scheint das Gelächter einer wilden Schar Saporoscher Kosaken im gleichnamigen Bild von Repin. Diese schreiben an den türkischen Sultan einen verächtlichen Brief. Es ist die Antwort auf ein Schreiben Sultan Mehmeds IV. von 1675, in dem er die Kosaken aufforderte, sich freiwillig und ohne jeden Widerstand zu ergeben. Repin erfuhr von dieser Episode und war vom Mut dieser lebenslustigen und freiheitsliebenden Menschen so begeistert, dass er die Szene 1880 bildnerisch umsetzte.

Man könnte behaupten, es ist die russische Seele, die in den Bildern zum Vorschein kommt. Eine Antwort auf die Frage, was Heimat ist. Bei einem Land, das sich mit Stichworten wie hart, entbehrungsreich, weit und trostlos verbindet, ist es umso erstaunlicher, dass Fröhlichkeit und Ausgelassenheit überhaupt dazu zählen. Bis heute lässt der berühmt-berüchtigte russische Winter nicht nur die Zähne der Einheimischen klappern, sondern auch die von Deutschen und Franzosen. Man hat im Allgemeinen Respekt vor Russland.

Diese russische Unbeschwertheit trotz harter Bedingungen visualisierte Wassili Surikow in seinem Gemälde »Einnahme der Schneefestung« (1891). Dargestellt ist ein fröhliches Volksspiel am so genannten Tag der Vergebung, dem letzten Tag der altrussischen Fastnachtswoche. An diesem Tag wurde traditionell alter Streit beigelegt und Neues begonnen. Man errichtete eine Schneefestung hinter der ein gedeckter Tisch aus Schnee aufgebaut wurde. Nun galt es, die Schneefestung zu verteidigen. Ein angreifender Reiter musste die Reihen der Verteidiger überwinden und den Querbalken der Festung durchstoßen. Genau diese Episode hielt Surikow fest. Angeblich geht dieser Brauch auf die Kosaken zurück, die damit der Einnahme Sibiriens gedachten.

Auf den Zusammenhang zum russisch-türkischen Krieg 1877/78 verweist wenige Schritte weiter »In den Krieg« (1888), ein riesiges Bild von Konstantin Sawizki. Er hält darin den Augenblick der Trennung am Bahngleis fest. Im Vordergrund steht eine junge Frau in folkloristischer Kleidung, die von zwei weiteren zurückgehalten und gleichzeitig gestützt wird. Ihr Mann wird von zwei Kameraden in Uniform fortgezogen. Er dreht sich dabei noch einmal nach ihr um, sie hält den Arm ausgestreckt. Es ist eine Szene voller Pathos. Unterstützt wird das Gefühl der Unruhe und Anspannung durch die dominierenden Farben Rot und Blau.

Verschwörerisches zeigt nun Wladimir Makowskis »Abendgesellschaft« (1875-97). Um einen Tisch mit traditionellem Teekocher und Wurstplatten, sitzen mehrere Menschen und halten Rat: so ein Greis im roten Hemd, eine betagte Dame mit Zwicker, gegenüber ein junger Mann im braunen Anzug, tief in Gedanken versunken. Beleuchtet wird die Szene nur von der Deckenlampe über dem Esstisch. Im Zentrum steht ein Paar, das mit einem Pfeife rauchenden Burschen diskutiert. – Vielleicht sogar über geheime politische Aktivitäten?

Geprägt von Stille und Konzentration ist hingegen ein Porträt von Tolstoi aus der Hand von Nikolai Ge. Es zeigt den berühmten Schriftsteller 1884, in einen engen Bildausschnitt gefasst, beim Arbeiten an seinem Schreibtisch. Weitere Bildnisse zeigen die Komponisten Rimski-Korsakow und Tschaikowski. Jeder durch Notenbücher oder einen Schreibtisch bezeichnet. Sie bildeten den intellektuellen Fixpunkt der Künstlergemeinschaft.

Abwechslungsreich stehen sich Tradition und Moderne in der Schau gegenüber. Rjabuschkins »Kaufmannsfamilie im 17. Jahrhundert« (1896) lässt beispielsweise das archetypische Bild der patriarchalischen russischen Familie wiederauferstehen: Zentral thront der Vater im Bild, unmittelbar daneben sitzt die Mutter mit dem jüngsten Kind auf dem Schoß. Flankiert werden sie durch zwei ältere Töchter.

Einflüsse der Freilichtmalerei der Schule von Barbizon sind hingegen im Werk Isaak Lewitans, Alexej Sawarassows und Iwan Schischkins fassbar. Letzter schuf mit »Giersch. Pargolowo« (ca. 1884/85) ein kleines Meisterwerk. Zutaten hierfür sind lediglich das unscheinbare Motiv eines verwilderten Rasenstücks mit Schafgarben und eine aufgelockerte Farbpalette. Die Weiterentwicklung findet sich bei Repin. In einem freien, impressionistischen Duktus ist sein Bild »Auf der Datscha der Akademie« (1898) gehalten. Es zeigt eine Szene mit mehreren malenden Künstlern auf einer Wiese. Silbrig-graue Töne und ein breiter Pinselstrich kennzeichnen indes die dunstige Atmosphäre in einem Wäschekeller, den Abram Archipow um 1898 malte.

Die Ausstellung in Chemnitz steht damit in direkter Nachfolge zu den Schauen »Hinaus in die Natur! Barbizon, die Weimarer Malerschule und der Impressionismus« (2010) und »Weltklasse. Die Düsseldorfer Malerschule 1819 – 1918« (2011). Diese einmalige Gelegenheit, die Palette der russischen Malerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu erforschen, sollten Sie sich also nicht entgehen lassen!

Weitere Informationen

Der Ausstellungskatalog bietet einen soliden Überblick zum Thema. Er kann über das Museum erworben werden.

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