In den neu eröffneten GEDOK-Räumen mitten in der Lübecker Innenstadt hat Katharina Reinshagen ihr Atelier, eine Künstlerin, die hauptsächlich sorgfältig gearbeitete Bilder tief gestaffelter Landschaften vorlegt, die oft genug in der Farbe der Nacht gehalten sind. An einem Tag der offenen Tür begegnete unser Autor Stefan Diebitz ihr und ihren Bildern.
Warum sprachen mich die Arbeiten Katharina Reinshagens fast unmittelbar an? Gleich der erste Blick, der auf das Bild einer italienischen Strandbar fiel, fesselte mich und ließ mich näher hinschauen. Wie dieses Bild, so sind Reinshagens Bilder fast immer menschenleer, zeigen aber in aller Regel nur selten die freie Natur, sondern zumeist Kulturlandschaft, nämlich Berliner Innenhöfe oder S-Bahn-Strecken, Industriegebäude am Ufer der Trave oder italienische Ansichten, etwa jene Strandbar (»Bar al Mare«), auf die die Künstlerin irgendwo in der Toscana gestoßen war.
Reinshagen selbst nennt neben dem Italiener Giogio Morandi noch Edvard Munch als einen ihrer Vorbilder. »Wie die Bilder Munchs, bloß ohne Menschen« versuchte ich im Gespräch ihre Bildwelten zu umschreiben, und sie fand dies absolut zutreffend. Wie die Bilder des großen Norwegers, in dessen Landschaften verängstigte, ja von Angst verzerrte Menschen umherirren, so zeichnet auch die Bilder Katharina Reinshagens ein Zug in die Weite und Ferne aus; oft findet sich etwas, das den Blick geradezu magisch in die Tiefe zieht, ein Brückengeländer bei Munch, ein bis zum Horizont laufender Schienenstrang bei Reinshagen. Und das kühle nächtliche Blau auf manchen Bildern lässt eine fast unendliche Weite ahnen. Die Künstlerin selbst ist ein sehr freundlicher und den Menschen zugewandter Typ, mit dem man leicht in ein Gespräch eintreten kann, aber in ihren Bildern begegnet man trotzdem keinen Menschen.
Vor dem Studium hatte sie Unterricht bei Ingrid Jörg genossen, die zusammen mit zwei Malern die »Berliner Handpresse« betrieb und bei der sie vor allem Linolschnitte anfertigte. Noch heute denkt sie mit Dankbarkeit an diese Stunden zurück. An der Hochschule der Künste bewarb sich die Abiturientin dann in ihrer Ratlosigkeit mit einer bunten Auswahl von Arbeiten: ein Schweinebein zählte dazu, also tatsächlich der sorgfältig gezeichnete Fuß des Tieres mit seinen Klauen, aber auch Rohre oder Schuhe. An der Hochschule belegte sie ein Grafik-Studium, so dass immer die Nähe zum Design gegeben war.
1979, nach ihrem Abschluss, arbeitete Katharina Reinshagen kurze Zeit auf Probe für eine Werbeagentur – gemeinsam mit einer jungen Kollegin. Die bessere der beiden sollte die feste Anstellung bekommen, aber als es dann soweit war und obwohl sich die Leitung für sie entschieden hatte, verzichtete Katharina Reinshagen und schloss sich mit der Kollegin zusammen. Mit einem gemeinsamen Institut für Grafik-Design (Specht & Reinshagen) hatten sie schon bald Erfolg und konnten tatsächlich von ihrer Arbeit leben. Für sie selbst kam dann noch ab 1987 ein sehr willkommener Lehrauftrag an der Hochschule der Künste hinzu.
Menschenleere stellt immer noch eines der Hauptmerkmale ihrer Arbeiten dar. Lachend erzählt sie von einer Stunde im Aktzeichnen an der Hochschule der Künste der Berlin, in der sie es zunächst überhaupt nicht wagte, das riesengroße Blatt mit einer Zeichnung zu füllen; zur Verblüffung ihres Professors brachte sie nicht mehr als einige zaghafte Striche in der linken unteren Hälfte des Blattes zustande, in ihren eigenen Worten einen »Zwerg«. Schon bald ging es dann zwar besser, aber der Mensch, als Figur wie als Porträt, blieb bis heute ein seltener Gast auf ihren Arbeiten.
1989 zog sie mit ihrem Mann nach Lübeck, wo sie erstmals bei der GEDOK eintrat. Die GEDOK ist eine 1926 von der Lyrikerin Ida Dehmel gegründete Organisation für Künstlerinnen (»Gemeinschaft deutscher und österreichischer Künstlerinnen aller Kunstgattungen«), die in ganz Deutschland in Orts- und Landesverbänden tätig ist und sich besonders bei der Präsentation der Arbeiten nützlich erweist. Reinshagen liebt ihr Atelier in der Lübecker Altstadt, den Blick aus dem Fenster auf die Häuserfront gegenüber ebenso wie die vielen schönen Winkel in nächster Nähe, und sie schätzt die Kollegialität unter den Künstlerinnen und die erfreuliche Tatsache, dass der Vorstand der GEDOK, der nicht selbst künstlerisch tätig ist, diesen den Rücken freihält und so die Arbeit erleichtert.
Außerdem ist Katharina Reinshagen noch Mitglied der Gemeinschaft der Lübecker Künstler, die bis zum letzten Dezember ihre Jahresschau in den eindrucksvollen spätgotischen Räumen des Burgtores vorstellen durfte. Den Kontrast zwischen dem mittelalterlichen Ambiente und der modernen Kunst liebten nicht allein die Künstler, sondern er machte die Ausstellung auch für die Besucher immer wieder zu etwas Besonderem. In Zukunft muss die Jahresschau aber leider dem Neubau eines Hansemuseums an eben dieser Stelle weichen, einem breit gesponserten Prestigeprojekt, dessen Sinn sich noch nicht unbedingt jedem erschlossen hat – Museen hat Lübeck nun wirklich genug, und die Hanse ist ziemlich tot. Die Jahresschau wird also statt im Burgtor alle zwei Jahre im St. Annen-Museum präsentiert werden, immerhin einem sehr schönen und eindrucksvollen Bau, in dem nicht allein mittelalterliche Kunst, sondern auch die Moderne ausgestellt wird. Aber noch sind die Künstler skeptisch, nicht zuletzt, weil sie ja noch einen Ort für jedes zweite Jahr finden müssen.
Worin nun liegt das Anziehende von menschenleeren Blättern, die Hausfassaden, Bahnstrecken oder Industriebauten im Zwielicht zeigen? Warum gefiel mir augenblicklich das Bild der Bar am Strand? Eigentlich war es sogar etwas mehr: es berührte mich. Sind es die bläulichen oder grünlichen Farbtöne der Dämmerung? Ist es die Farbe der Nacht?
Oswald Spengler hat sehr schön im »Untergang des Abendlandes« über Blau und Grün geschrieben, dass sie »die Farben des Himmels, des Meeres, der fruchtbaren Ebene […] sind, der Schatten an südlichen Mittagen, des Abends und der entfernten Gebirge. Sie sind wesentlich atmosphärische, nicht gegenständliche Farben. Sie sind kalt; sie entkörpern und rufen die Eindrücke des Weiten, Fernen und Grenzenlosen hervor.« Dies trifft ganz bestimmt auf viele Bilder Reinshagens zu, so etwa auf »Kalt ist der Abendhauch«, »Eschenallee« oder die Serie »Die Farbe der Nacht«. Sehr viele dieser Bilder sind in den genannten Farbtönen gehalten, und sehr oft besitzen sie einen Zug in die Weite, etwas, das von vorn nach hinten läuft, ja geradezu fluchtet und den Betrachter mit sich nimmt.
Aber dies gilt doch nicht für alle ihre Arbeiten, denn einerseits sind keineswegs alle Bilder bläulich oder kalt-grünlich, sondern es finden sich auch ein lebendiges, freundliches Grün (»Montescudaio«, eine italienische Landschaft) oder ein eher morgendlicher, ockerfarbener Himmel. Und auf manchen Arbeiten ist der Vordergrund wichtig, so besonders in den Berliner Bildern, etwa »Am Savignyplatz«. Aber: Alle Bilder besitzen perspektivische Tiefe. Da führen Schienen aus einem düsteren Tunnel in das Licht (»Ausfahrt Ost«), auf der anderen Seite der Trave hocken Kräne auf ihren Fundamenten (»Herbstfluss«), während vorne Pontons auf dem Wasser schwimmen, und besonders die nächtlichen Bilder leben ganz davon, dass das dunkle kalte Blau uns nicht sehen lässt, was sich weiter hinten abspielt.
Die Bilder Reinshagens entstehen in einer Mischtechnik. Konkret bedeutet das Pastellkreiden, Farbstifte oder Kohle. Vor dem Beginn der eigentlichen Arbeit nimmt sie gern mit dem Bleistift Skizzen vor Ort auf, denn sie fotografiert zwar gerne, greift aber für ihre Vorlagen nicht auf Fotos zurück. Sie beginnt meist mit einer dünnen Vorzeichnung auf leicht getöntem Papier und fährt mit einem Pastellkreidestift fort. Später wird dann Farbe aufgetragen, und gelegentlich sprüht die Künstlerin das noch vorläufige Resultat ihrer Arbeit mit einem Zwischenfixertief für Pastellmalerei ein. So wächst das Bild allmählich, Schicht kommt auf Schicht, und das Blatt wird mit der Zeit immer detaillierter. Größere Korrekturen werden aber nur selten vorgenommen.
Ungefähr einen Monat braucht die Künstlerin für ein Bild – eine Schnellmalerin ist sie also nicht. Am Ende dieser langen, sorgfältigen und geduldigen Arbeit steht ein vielschichtiges Werk, das durchaus schon beim ersten Hinschauen beeindrucken kann, aber immer wieder angeschaut werden will und auch angeschaut werden kann, weil es immer wieder etwas Neues zu entdecken gibt.
Erst kürzlich knüpfte sie Kontakt zu einer Galerie in dem malerischen Örtchen Querceto in der Toscana, und nun besteht begründete Aussicht auf eine Ausstellung in Italien, für die sie dann allerdings noch einige italienische Bilder mehr zu malen hätte. Es war »Bar al Mare«, das dem Galeristen spontan gefiel – dasselbe Bild, das auch mich dazu gebracht hatte, den Kontakt zu suchen.